Virologe zu China Null-Covid - "in der Realität nicht umzusetzen"
Chinas rigorose Null-Covid-Strategie ist zum Scheitern verurteilt, sagt der Virologe Stürmer. Peking sollte auf die Motivation der Bevölkerung statt auf Zwang setzen - und akzeptieren, dass das Virus nicht mehr loszuwerden ist.
tagesschau.de: Wie soll die chinesische Null-Covid-Strategie funktionieren, wenn es nach dem Willen der Regierung geht?
Martin Stürmer: Eigentlich ist das die effektivste Maßnahme, die man sich vorstellen kann: Man nimmt alle Infizierten und isoliert sie sehr, sehr lange, also hier zum Beispiel vier Wochen. Und man sorgt dafür, dass alle potenziellen Kontakte keine Möglichkeit haben, andere Menschen zu sehen. Also wirklich eine absolut strikte Isolierung und das großräumig um die Infizierten herum.
Damit hat man in der Theorie zumindest die Möglichkeit, die Infektion komplett einzudämmen, weil einfach keiner in der Zeit, in der er oder sie ansteckend ist, Kontakte zu anderen Menschen hat. Also wie gesagt, ein rigoroses Wegsperren und Vermeiden jeglicher Kontakte über einen entsprechenden Zeitraum.
Brillant - aber nur in der Theorie
tagesschau.de: China versucht das ja nun schon etwas länger und scheint keinen Erfolg damit zu haben, denn die Zahl der Neuinfektionen steigt. Was passiert da gerade?
Stürmer: In der Theorie klingt das sehr einfach: Sperr' jeden, der infiziert ist oder potenzielle Kontakte hat, entsprechend weg. Aber die Realität sieht ja anders aus. Man kann Menschen einfach über diesen Zeitraum nicht so konsequent isolieren. Es gibt immer wieder Möglichkeiten der Übertragung, es gibt unentdeckte Übertragungen und so weiter. Also es sind so viele Faktoren, die da eine Rolle spielen, dass das ganze Konzept in der Theorie zwar brillant klingt, aber in der Realität nicht umzusetzen ist.
Und wir reden ja teilweise über ganze Städte, nicht nur über Stadtviertel, über einzelne Wohnungen, sondern wir reden über zigtausende Menschen. Die Disziplin der Menschen ist auch entscheidend. Das hat in China lange funktioniert, weil man das in so einem Regime natürlich leichter machen kann. Aber irgendwann reißt auch da den Menschen der Geduldsfaden. Wir sehen gerade sehr eindrucksvoll in China, dass eben die Theorie und die Praxis zwei verschiedene Paar Schuhe sind.
Auch BioNTech-Vakzin würde China nicht helfen
tagesschau.de: Auch die Impfkampagne ist sehr strategisch aufgezogen worden. Aber trotzdem scheint es keinen hohen Infektionsschutz zu geben - woran liegt das? Es war der chinesische Impfstoff, der verwendet wurde?
Stürmer: Grundsätzlich muss man natürlich sagen, dass die Impfstoffe entwickelt wurden, um die schweren Verläufe und die Todesfälle deutlich zu reduzieren. Das ist damit gelungen. Es war nie das primäre Ziel, Infektionen zu vermeiden. Am Anfang hatten wir den Vorteil, dass die Impfstoffe so gut funktioniert haben - bei den Varianten bis Delta -, dass tatsächlich auch in hohem Maße Infektionen vermieden werden konnten. Aber mit dem Wechsel zu Omikron war das Ganze mehr oder weniger nicht mehr möglich. Die schwere Verläufe haben wir weiterhin reduzieren können, aber die Infektion sind so gut wie nicht mehr zu vermeiden.
Jetzt sind wir, zumindest in Europa und in Amerika, mit dem angepassten BioNTech-Impfstoff in der Lage, hier wieder besser zu sein. Aber der chinesische Impfstoff, sofern er nicht angepasst ist, wird natürlich gegen Omikron komplett ins Leere laufen.
tagesschau.de: Nun will ja China den BioNTech-Impfstoff zumindest für Ausländer zulassen. Könnte das eine Lösung sein?
Stürmer: Nein, das wird nicht helfen, die Null-Covid-Strategie umsetzen zu können. Es ist so, dass wir mit diesen Impfstoffen das Risiko wahrscheinlich reduzieren können, BA5-Infektionen zu bekommen, aber wir werden es nie auf null senken. Es ist mit einer Impfung im Prinzip unmöglich, das Virus aus unserer Gesellschaft zu entfernen. Die Erfahrung haben wir mit Erkältungs-Erregern machen können und da wird Sars-CoV-2 keine Ausnahme sein. Wir werden damit leben müssen und auch China wird damit leben müssen, dass das Virus uns alltäglich begleiten wird in unserem Leben.
"Strategie über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt"
tagesschau.de: Nun hat aber ja China wirklich alles getan, damit dieses Virus nicht ins Land kommt, etwa mit Reisebeschränkungen. Es hat bei Verdachtsfällen komplette Stadtviertel oder ganze Städte fast abgesperrt. Trotzdem hat das die Ausbreitung nicht verhindern können. Warum?
Stürmer: China hat es insgesamt schon sehr gut geschafft, die Infektionen ein bisschen einzudämmen. Aber um welchen Preis? Letztendlich bedeutet das, massive Teile der Bevölkerung in ihrem Alltagsleben extrem zu beschneiden und zu reglementieren. Und dass das auf Dauer nicht funktioniert, ist glaube ich jedem klar. Und wir sehen es ja jetzt auch an den Reaktionen in China, dass die Menschen einfach nicht mehr wollen.
Es wird immer Einzelfälle geben, wo das Virus eben doch mit einem Menschen zusammen ausbrechen kann aus diesen engen Restriktionen. Und da reichen ja ein paar wenige Events, um das Virus eben doch wieder in andere Teile des Landes zu tragen. Dementsprechend ist so eine Strategie über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt.
Maßnahmen lockern und Bevölkerung motivieren
tagesschau.de: Wie könnten Sie sich vorstellen, dass China jetzt weitermacht? Vielleicht leichte Lockerung und zusätzlich weiter impfen? Oder was könnte eine Lösung sein?
Stürmer: Ganz wichtig ist es, dass China akzeptiert, dass das Virus nicht mehr loszuwerden ist. Das wäre der entscheidende Schritt. Dann muss man die Bevölkerung motivieren, bestimmte Maßnahmen mitzutragen. Und dementsprechend würde ich China empfehlen, jetzt nicht auf eine komplette Entspannung zu setzen, sondern schon bestimmte Regeln aufrecht zu halten und das Infektionsgeschehen besser zu kontrollieren, um die Menschen wieder mitzunehmen.
Eine gute Impfstrategie würde sicherlich helfen, wenn sie einen angepassten Impfstoff verwenden, weil man so die Möglichkeit hat, Infektionen zu reduzieren und insgesamt das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Ich glaube, wenn China das akzeptiert, dann werden sie auf einen guten Weg kommen, sich mit dem Virus zu arrangieren und damit leben zu können.
tagesschau.de: Und kleinere Einschränkungen wären dann ja auch eine Art Wellenbrecher. Aber man kann die Infektionen eben nicht komplett auf Null runterfahren, oder?
Stürmer: Genau. Wir werden die Infektionen - egal ob jetzt in China, in Deutschland oder sonst wo auf der Welt - nicht so radikal auf Null setzen können über einen längeren Zeitraum, so dass wir das Virus komplett loswerden. Man muss damit leben. Man muss ein bestimmtes Maß an Infektionen zulassen. Und die Frage ist: Wie geht man mit diesen Infektionen um? Wo muss der Staat eingreifen? Wo ist die Eigenverantwortung? Aber man muss sich damit arrangieren.
Und wenn man geeignete, geringfügige Maßnahmen umsetzt, dann wird man auch die Bevölkerung an Bord haben. Die werden das mittragen. Und dann kann man als Gesellschaft insgesamt damit gut leben und sich arrangieren.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert.