Fußballturnier im Jahr 2021 Studie zählt 840.000 Corona-Fälle durch EM
Die Fußball EM 2020 - die im Jahr 2021 ausgetragen wurde - hat in zwölf der beteiligten Nationen für 840.000 zusätzliche Corona-Infektionen gesorgt. Das zeigt eine Studie. In Großbritannien stieg die Zahl besonders dramatisch.
Mehr als 60.000 Zuschauer in den Stadien, Hunderttausende vor den Bildschirmen und in Kneipen oder beim Public Viewing: Bei der vergangenen Fußball-Europameisterschaft kamen mitten in der Pandemie so viele Menschen zusammen wie schon lange nicht mehr. Schon damals war die Veranstaltung umstritten, weil Experten Tausende Infektionen befürchteten. Kritiker sprachen von einem Superspreader-Event und selbst der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer forderte die UEFA auf, die erlaubten Zuschauerzahlen deutlich nach unten zu korrigieren.
Eine Studie, an der unter anderem die Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen beteiligt war, kommt nun zu einem ernüchternden Ergebnis: Durch das Turnier kam es in zwölf teilnehmenden Ländern, für die ausreichend Daten zur Verfügung standen, zu rund 840.000 zusätzlichen Corona-Infektionen. Die Forscher werteten dazu epidemiologische Daten aus, etwa tägliche Fallzahlen und das Geschlecht der Infizierten. Daraus lässt sich in der Folge eine Zahl von geschätzten 1000 Todesfällen ableiten.
Wenig Infektionen im Stadion
Eine Erkenntnis: Zu Ansteckungen kam es dabei weniger in den Stadien als vielmehr bei privaten Treffen, etwa in Pubs und Wohnungen, wo Menschen die Spiele gemeinsam anschauten. "Die Stadien selbst sind als Infektionsort eher zu vernachlässigen im Verhältnis zu den Infektionen im ganzen Land", sagt Priesemann. Entscheidender für ein Land ist der R-Wert, also die Zahl der Menschen, die ein einzelner Infizierter ansteckt. Dieser stieg an Spieltagen in den beteiligten Ländern im Schnitt um 0,46. Besonders drastisch war die Lage in England: Dort stieg der R-Wert an Spieltagen der "Three Lions" von etwa 1 auf bis zu 3 - in Schottland sogar auf 4. Statt einer Person wurden bei England-Spielen also 3 Personen angesteckt von einem Infizierten - offenbar weil mehr Engländer in Kneipen oder bei Bekannten schauten als beispielsweise die Deutschen.
Der Rhythmus der Spiele eines Teams war dabei besonders ungünstig: "Nach vier Tagen sind viele Menschen - wenn sie sich beim vergangenen Spiel angesteckt haben - zwar noch asymptomatisch aber schon infektiös", sagt Priesemann.
Und natürlich blieb es nicht bei den Infektionen an den Spieltagen - denn jede infizierte Person startete eine Infektionskette, über die sich den Schätzungen zufolge im Untersuchungszeitraum bis Ende Juli 2021 im Schnitt pro Virusträger weitere vier Menschen ansteckten. "Daran kann man sehen, dass Infektionen keine Privatsache sind", sagt Priesemann. "Denn über solche Infektionsketten breitet sich das Virus auch in vulnerable Bevölkerungsgruppen aus."
Große Unterschiede zwischen den Ländern
Das Turnier war damals vom Jahr 2020 auf dem Sommer 2021 verschoben worden. Es fand vom 12. Juni bis 12. Juli in zehn verschiedenen Städten statt, von Sevilla bis St. Petersburg. Am Ende gewann Italien den Titel. In der Studie zeigen sich enorme Unterschiede zwischen den Ländern: So bestritt beispielsweise Tschechien fünf Spiele. Doch trotz großer Fußballbegeisterung im Land kam es dort pro eine Million Einwohnern nur zu etwa 460 zusätzlichen Infektionen.
Ein ganz anderes Bild in England: Dort steckten sich in der Folge rund 11.000 Menschen pro eine Million Einwohner mit dem Coronavirus an - das ist mehr als das zwanzigfache. Dies lag dabei nicht allein an der größeren Anzahl von Spielen, da die englische Mannschaft bis zum Finale sieben Spiele absolvierte, sondern vor allem an der niedrigeren Inzidenz zu Beginn des Turniers in Tschechien.
Deutschland mit guten Zahlen
Auch Deutschland kam laut der Erhebung relativ gut durch das Turnier. Zu Beginn des Turniers lag die Sieben-Tage-Inzidenz laut RKI nur bei 17 - und sank sogar bis Mitte Juli auf 7,1. Das könnte mehrere Gründe haben, sagt Priesemann. Zum einen war die Dunkelziffer recht niedrig - dadurch lassen sich Infektionsketten besser stoppen. Schnelltests waren flächendeckend verfügbar und wurden auch rege genutzt. Auch die Warnungen vorab durch Politiker und Gesundheitsexperten könnten dazu beigetragen haben. "Das heißt aber nicht, dass bei der EM in Deutschland keine Infektionsketten losgetreten wurden", so die Physikerin.
Zur Erinnerung: Zu der Zeit war die gefährlichere Delta-Variante auf dem Vormarsch. Die Quote der Erstimpfungen lag zu Beginn des Turniers bei nicht einmal 50 Prozent und nur jeder vierte Deutsche hatte eine zweite Spritze bekommen. Vielleicht waren die Deutschen auch deshalb generell vorsichtiger als Engländer, wo die Impfkampagne schon weiter vorangeschritten war.
Hinweise für künftige Großveranstaltungen
Die Studie könnte auch Hinweise geben, wie Großveranstaltungen während einer möglichen künftigen Pandemie sicherer gemacht werden können. "Das Entscheidende ist wirklich die niedrige Inzidenz zu Beginn eines Turniers. Denn entsprechend niedriger fallen die Infektionsketten hinterher aus", so Priesemann.
Ihr Kollege Philip Bechtle von der Universität Bonn, der ebenfalls an der Studie beteiligt war, erklärt zudem: "Wenn vulnerable Gruppen geschützt werden sollen, sind bei einem großen Sportereignis Präventionsmaßnahmen nötig." Neben der niedrigen Inzidenz und einem niedrigen R-Wert könnten auch Masken, vermehrte Tests und Impfungen sowie vorausschauende Kontaktreduktion helfen, das Infektionsgeschehen einzudämmen.