Repräsentative Studie Fast jeder zweite Wissenschaftler erlebt Anfeindungen
45 Prozent aller Forschenden haben Anfeindungen erfahren - das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie. Häufig sind die Angriffe politisch motiviert.
September 2023 im Naturkundemuseum Berlin: Der Virologe Christian Drosten ist zu einem Vortrag eingeladen. Das Thema lautet: "Pandemische Gefahren vor und nach Covid-19". Schon zu Beginn der Veranstaltung, berichtet der Hausherr Professor Johannes Vogel, "gab es ein paar Leute, die sich sehr aufdringlich um Herrn Drosten gekümmert haben". Der Leiter des Naturkundemuseums muss dann erleben, wie ihm die Veranstaltung zu entgleiten droht. Immer wieder gibt es aggressiv-provozierende Fragen, einen Zwischenruf, der behauptet, Christian Drosten klebe "Blut an den Händen".
Moderator Vogel und Christian Drosten selbst versuchen, ruhig zu bleiben, Fragen möglichst sachlich zu beantworten. Aber - so erinnert sich Vogel: "Es gab Augenblicke, in denen nicht auszuschließen war, dass es auch zu körperlichen Handlungen kam. Der Abstand zwischen Menschen, den man normalerweise hält, ist ganz deutlich unterbrochen worden. Das war auch Absicht." Doch die Mehrheit im Publikum stellt sich dann deutlich gegen die Provokationen. Am Ende kommt heraus: Die Störer gehörten einer Gruppe von Impfskeptikern an, die die Veranstaltung instrumentalisieren wollten, um schließlich Propagandavideos darüber ins Netz zu stellen.
Anfeindungen sind häufig politisch motiviert
Die Pöbeleien gegen den Wissenschaftler Drosten sind die Spitze eines breiten Eisberges. Das zeigt jetzt erstmals eine bundesweite Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), die rbb24 Recherche vorab vorliegt. Sie basiert auf einer Umfrage unter rund 2.600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Anfeindungen sind dabei häufig politisch motiviert: Je aktueller und politisch umstrittener ihr Forschungsfeld ist, desto eher werden Wissenschaftler angefeindet. Daraus lässt sich die Prognose ableiten, dass insbesondere wissenschaftliche Äußerungen zu Themen wie Krieg und Frieden in Nahost und der Ukraine oder zum Klimawandel Anfeindungen auslösen können.
In der Mehrzahl der Fälle geht es um das offene Anzweifeln der Kompetenz und das Herabwürdigen von Forschungsergebnissen. Die Beleidigungen und Drohungen erfolgen nicht nur in sozialen Medien und digitalen Kanälen, sondern auch im Alltag, im Büro und auf der Straße. Schwere Formen wie Vandalismus, Hassrede oder gar physische Angriffe sind allerdings selten. Sie werden jedoch angedroht - in 17 Prozent der Nennungen derjenigen, die Anfeindungserfahrungen gemacht haben. 55 Prozent der Befragten haben noch keinerlei eigene Erfahrungen mit Anfeindungen gemacht.
Erst Zweifel säen, dann Drohungen
Am meisten angefeindet werden Geisteswissenschaftler. Zu ihnen gehört auch Daniel Saldivia Gonzatti vom Wissenschaftszentrum Berlin. Der Protest- und Konfliktforscher hat zum Beispiel die Bauernproteste analysiert und sich zur Blockade der Fähre mit Wirtschaftsminister Robert Habeck im Hafen von Schüttsiel geäußert. Nach einem Interview bei tageschau24 wurde Saldivia Gonzatti in den sozialen Medien angegangen. Seine wissenschaftliche Kompetenz wurde ebenso angezweifelt, wie die Wissenschaftstauglichkeit seines Forschungsfeldes.
"Dann ging es sehr schnell darum, dass ich politisch in einer Partei engagiert bin", erinnert sich Saldivia Gonzatti. "Und dann findet eine Art politische Diffamierung gegenüber meiner wissenschaftlichen Arbeit statt - bis hin zu rassistischen Ausdrücken." Auf X muss er auch direkte Bedrohungen lesen: "Mach dir keine Sorgen. Wenn in diesem Land wieder Ordnung einkehrt, bringen wir dich dahin zurück, wo du hingehörst, du Möchtegern." Nach langem Ringen und professioneller Beratung hat der Forscher sich dennoch entschieden: "Ich äußere mich weiterhin, wenn es passend ist und ich meine Expertise einbringen kann."
Sexistische oder rassistische Diskriminierung
Zur Überraschung der Studien-Autoren sind nicht nur Geisteswissenschaftler wie Daniel Saldivia Gonzatti von Anfeindungen betroffen, sondern in ähnlichem Ausmaß auch Naturwissenschaftler. Leicht erhöhte Werte besonders für schwere Anfeindungen wurden für die Lebenswissenschaften wie Medizin, Virologie, Biologie festgestellt. Bei diesem Ergebnis liegt ein Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nahe.
Ein Teil der erlebten Abwertungen sei auch mit aktiver Diskriminierung, mit sexistischen oder rassistischen Angriffen verbunden, schreiben die Autoren. Demnach berichten Frauen solche Vorfälle etwas häufiger als Männer. Vergleichsweise wenig betroffen sind die Ingenieurswissenschaften. Die Studienautoren legen Wert auf die Feststellung, dass berichtete Anfeindungen des Öfteren schon länger zurück liegen. Es handele sich also nicht um ein neues Phänomen. Auch gebe es Anzeichen dafür, dass es "ernste Probleme in der Kommunikationskultur innerhalb der wissenschaftlichen Fachgemeinschaften" gebe.
Konsequenz: Noch mehr und besser kommunizieren
An dem Forschungsprojekt waren mehrere wissenschaftliche Institutionen unter Federführung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) beteiligt. Die Daten wurden in den letzten vier Monaten des vergangenen Jahres erhoben. Die Absicht der Täter sei offensichtlich, bestimmte Forscherinnen und Forscher mundtot zu machen und unliebsame Erkenntnisse zu negieren.
Forschungsleiter Clemens Blümel rät Wissenschaftlern in der Konsequenz dazu, "genauer hinzuschauen, wie wir kommunizieren und was wir kommunizieren". Dabei müsse deutlich gemacht werden, dass der wissenschaftliche Prozess auch von Unwägbarkeiten und Unsicherheiten geprägt werde. Auch Fehler müssten kommuniziert, insgesamt ein "realistisches Bild der wissenschaftlichen Praxis" gezeichnet werden.
Auch Professor Johannes Vogel vom Berliner Naturkundemuseum engagiert sich weiter für "Open Science", also für Dialoge wie den mit Christian Drosten. Er fordert die Wissenschaft insgesamt dazu auf, einen Tag der Woche für Demokratie zu geben. An so einem Tag, sagt Vogel gegenüber rbb24 Recherche, müssten Wissenschaftler nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch zuhören, welchen Wissensbedarf Menschen haben.
Jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an Themen arbeiten, die kontrovers sein könnten, rät er, sich gut vorzubereiten: "Bitte nicht blauäugig, nicht naiv sein, und die professionelle Unterstützung, die vorhanden ist, abrufen und für sich selbst nutzen."