Polioausbruch in New York "Das Virus ist hier"
Der Polioausbruch in New York lässt sich nicht mehr auf Einzelfälle begrenzen. Mangelnde Hygiene und Impfskepsis begünstigen die Ausbreitung des Virus. Wissenschaftler schlagen Alarm.
Es klingt wie ein Einzelfall. Im Juli erkrankte ein Mann in Rockland County im Bundesstaat New York schwer an Polio. Laut Medienberichten ist der Mitte-Zwanzigjährige, der nicht geimpft war, aufgrund der Infektion gelähmt. Der erste Fall in den USA seit mehr als zehn Jahren.
Lähmungen sind eine sehr seltene Folge einer Polio-Infektion, selbst wenn die Menschen nicht geimpft sind. 75 Prozent der Infizierten haben gar keine Symptome. Fast 25 Prozent haben nur ganz milde. Bei weniger als ein Prozent selbst der Ungeimpften kommt es zu einem schweren Verlauf. Das heißt: Auf einen Fall mit Lähmungen kommen wahrscheinlich hunderte oder tausende Infektionen.
Unterschiedliche Virenstämme entdeckt
Für Adam Ratner, Direktor der Abteilung für Kinder-Infektionskrankheiten an der Universitätsklinik NYU Langone, war schon im Juli dieses Jahres klar, dass es sich beim Polio-Fall um einen Gesundheitsnotstand handelt. Die Behörden brauchten ein bisschen länger. Erst vor einigen Tagen rief der Bundesstaat New York den Katastrophenfall aus. Denn inzwischen wurde das Virus auch im Abwasser der Millionenmetropole nachgewiesen:
Das Polio-Virus ist hier. Es zirkuliert. Es kommt ins Abwasser, weil Infizierte das Virus ausscheiden. Und wenn solche Menschen sich nicht die Hände waschen und mit Ungeimpfen in Kontakt kommen, dann könnte es sein, dass wir schon bald gelähmte Kinder sehen werden. Oder Erwachsene an Beatmungsgeräten, von denen sie nie wieder wegkommen.
Das sagt Daniel Griffin, Professor für klinische Medizin an der New Yorker Columbia-Universität. Im Abwasser von vier Stadtbezirken und einigen umliegenden Landkreisen sind unterschiedliche Virenstämme gefunden worden.
Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich nicht nur um einen Einzelfall handelt. "Es ist besorgniserregend. Sogar sehr besorgniserregend", so Griffin. "Ich hoffe, das ist ein Alarmsignal für Menschen, die nicht geimpft sind oder ungeimpfte Kinder haben. Ein Weckruf."
Impfskepsis bei orthodoxen Juden
Die Impfquote für zweijährige Kinder liegt im Bundesstaat New York bei nur 79 Prozent. Im Rockland County - 50 Kilometer nördlich von New York City - gerade mal bei 60 Prozent. Dort gab es den schweren Polio-Fall mit Lähmungen. Örtliche Medien berichteten, dass der Infizierte einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde dort angehört.
Orthodoxe Juden stehen Impfungen besonders skeptisch gegenüber - und sind im Landkreis Rockland stark vertreten. Mehr als ein Dutzend Rabbiner forderten ihre Gemeindemitglieder jetzt in einem offenen Brief auf, sich gegen Polio impfen zu lassen. Auch Shoshana Bernstein, selbst orthodoxe Jüdin, klärt in den Gemeinden über Impfungen auf:
Weltliche Medien dringen hier kaum durch. Es gibt viele Gerüchte. Wenn die US-Gesundheitsbehörde CDC etwas veröffentlicht, dann liest das nicht mal jemand. Ich sage immer: Es ist sehr einfach, Angst zu schüren und sehr schwer das wieder rückgängig zu machen.
Dabei hofft sie jetzt auf die älteren Gemeindemitglieder. Sie könnten sich noch an Ausbrüche von Kinderlähmung in den 50er-Jahren erinnern und jüngere Menschen von einer Impfung überzeugen.