Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einer Parteiversammlung im Februar 2020.

Risiken für die Wirtschaft Erdogans gefährliches Lira-Spiel

Stand: 22.04.2021 16:01 Uhr

Der türkische Präsident verunsichert einmal mehr die Finanzmärkte. Aus ökonomischer Perspektive spielt Erdogan mit dem Feuer. Eine "Todesspirale" für die türkische Wirtschaft droht.

Von Angela Göpfert, tagesschau.de

Die nächste Lira-Krise ist da. Am Donnerstag fällt die türkische Währung bis auf 0,1204 Dollar - ein Minus von 1,4 Prozent. Bereits am Vortag hatte die Lira zum Dollar 1,0 Prozent eingebüßt. Zum Euro fallen die Verluste ähnlich hoch aus. Das sind wahrlich extreme Bewegungen für den Devisenmarkt, wo sich die Schwankungen für gewöhnlich im Promille-Bereich abspielen.

Der deutliche Absturz der Lira folgt einer an den Finanzmärkten als extrem wahrgenommenen Wirtschaftspolitik seitens des türkischen Staatspräsidenten. Einmal mehr verunsicherte Recep Tayyip Erdogan die Finanzmärkte mit drastischen Äußerungen: Die Türkei befinde sich in einem Kampf gegen einen "Dreiklang des Bösen" aus Inflation, Zinsen und Wechselkursen, so der Staatschef.

Nicht der erste entlassene Notenbankchef

Erst im März hatte Erdogan den Gouverneur der Zentralbank CBT, Naci Agbal, per Präsidialdekret entlassen, nachdem dieser den Leitzins von 17 auf 19 Prozent angehoben hatte.

Weniger als drei Monate zuvor hatte Erdogan noch versprochen, die "bittere Pille" hoher Zinsen zur Eindämmung der rasant galoppierenden Verbraucherpreise zu akzeptieren. Erdogan scheint seine Meinung geändert zu haben. Denn Agbals Nachfolger ist Sahap Kavcioglu, ein ehemaliger AKP-Abgeordneter und Befürworter niedriger Zinssätze.

Glaubwürdigkeit der Geldpolitik ruiniert

Aufgrund mehrerer Personalwechsel an der Spitze der Notenbank hatte die Lira bereits in den vergangenen Monaten erheblich an Boden verloren. Experten zweifeln allerdings, dass eine Schwächung der Glaubwürdigkeit der Notenbank die richtige Antwort hierauf ist - und wählen ebenfalls drastische Worte.

Erdogan riskiere "sehenden Auges eine weitere Lira-Krise", warnt Tatha Ghose, Londoner Devisenmarkt-Experte der Commerzbank. Mit seinem "De-facto-Verbot nachhaltig hoher Zinsen" habe er die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik ruiniert.

Kapitalkontrollen als letzter Ausweg?

Vor diesem Hintergrund hat die Türkei der rasant steigenden Inflation nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Im März hatte die türkische Inflationsrate bei 16,2 Prozent gelegen. Erdogan hatte daraufhin das Ziel einer Teuerungsrate im einstelligen Prozentbereich ausgerufen.

Zwar rechnen einige Experten nun mit der Einführung von Kapitalkontrollen als letztem Ausweg, um den ungebremsten Abfluss von Kapital aus der Türkei zu stoppen. Mit umfassenden Kontrollen ist allerdings wohl eher nicht zu rechnen, dafür ist die Türkei schlicht zu abhängig von ausländischem Kapital.

Hinzu kommt: Eine Unterbindung des freien Kapitalverkehrs würde das Vertrauen der Finanzmärkte in die Türkei vollends ruinieren. Auch Stützungskäufe der Lira auf den Devisenmärkten dürften angesichts des extrem dünnen Polsters der Türkei an Devisen-Reserven ihr Ziel verfehlen.

Experten warnen vor einer Abwärtsspirale

Dabei gehen von der schwachen türkischen Lira immense Gefahren für die türkische Wirtschaft aus: "Abwertungen der Lira sind immer von Bedeutung, weil der währungsbedingte Ausstrahlungseffekt maßgeblich zur hohen türkischen Inflation beiträgt", betont Devisen-Experte Ghose. "Jede noch so unscheinbare Bewegung kann eine neue Marktspirale auslösen und die Lage erschweren."

Bereits 2018 warnte Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman vor einer "Todesspirale" für die türkische Wirtschaft. Als mögliche Auslöser nannte er damals explizit auch inländische Ereignisse wie etwa wiederholte Angriffe auf die Unabhängigkeit der heimischen Notenbank.

Nobelpreisträger Paul Krugman

Paul Krugman warnt vor den Risiken eines Lira-Verfalls.

Erst die Finanzmärkte, dann die Realwirtschaft

Die direkte Folge wäre: Die heimische Währung rauscht in die Tiefe. Das erhöht die Inflation, da viele Waren für teures Geld aus dem Ausland importiert werden müssen, was wiederum die Kosten für die Unternehmen und die Lebenshaltungskosten vieler Türken steigen lässt.

Der Lira-Verfall erschwert aber auch die Schuldenrückzahlungen in fremdländischen Währungen. Denn viele türkische Unternehmensanleihen und -kredite sind in Fremdwährungen wie Dollar oder Euro denominiert.

Es kommt zum nächsten Abwärtsschritt: Türkische Unternehmen gehen pleite. Dann steigt die Arbeitslosigkeit, der inländische Konsum sinkt - die Krise schlägt voll auf die Realwirtschaft durch. Die logische Folge: Das Vertrauen der Investoren sinkt weiter. Das setzt die türkische Währung wiederum stärker unter Druck - und die Abwärtsspirale beginnt von Neuem.

Lira-Verfall ohne Ende?

Die Warnung Krugmans ist heute so aktuell wie 2018: Denn damals wie heute es die "unkonventionelle" geldpolitische Weltanschauung des türkischen Präsidenten, die bei den Marktteilnehmern die Erwartung erzeugt, dass nachhaltig hohe Zinsen in der Türkei nicht durchsetzbar sind. Es ist diese Erwartungshaltung, die schwer auf der Lira lastet.

Ein Ende der Lira-Abwärtsspirale - von kurzfristigen Erholungsphasen abgesehen - scheint dabei vorerst nicht in Sicht. Experten wie Devisenmarkt-Analyst Ghose rechnen mit einem weiteren Verfall der türkischen Währung. Im Dezember 2021 müssen Anleger seiner Prognose zufolge zehn Lira für einen US-Dollar aufwenden.

Dabei handelt es sich jedoch eher um eine "symbolische" Prognose, da sich die Türkei derzeit auf unerforschtes geldpolitisches Gebiet vorwage. Diese mache eine rationale Wechselkursprognose quasi unmöglich.

IWF-Regime als Ausweg?

Fakt ist: Aktuell sind 8,26 Lira ein Dollar. Das weitere "symbolische" Abwärtspotenzial für die Lira bis zum Jahresende liegt demnach bei stolzen 20 Prozent.

Der einzig mögliche Ausweg, um ein solches Szenario zu verhindern, wäre Experten zufolge ein Rettungspaket der Internationalen Währungsfonds (IWF). Dies könnte helfen, die Glaubwürdigkeit wichtiger Institutionen wie etwa der türkischen Notenbank am Markt wiederherzustellen. Ein solches IWF-Programm lehnt Erdogan bislang allerdings ab, würde es doch seine persönliche Macht untergraben.

Karin Senz, Karin Senz, ARD Istanbul, 23.04.2021 06:34 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutsche Welle Wirtschaft am 22. März 2021.