Inflation in der Türkei "Wir sparen an allem in unserem Leben"
In der Türkei liegt die Inflationsrate besonders hoch - bei mittlerweile knapp 80 Prozent. Istanbul hat vor Kurzem die erste städtische Suppenküche eröffnet. Selbst Angehörige der Mittelschicht kommen dorthin.
Halb 12 Uhr am Mittag. Zübeyde steht in roter Schürze und schwarzem Kopftuch hinter der Theke an der Essensausgabe. Alles ist vorbereitet. Die 37-Jährige hebt die silbernen Deckel der großen Edelstahlbehälter mit Essen. Heute gebe es Frikadellen-Auflauf, Nudeln, Tzatziki und Tomatensuppe, listet sie auf, während sie auf einen Behälter nach dem anderen zeigt.
Das alles für 29 Lira - umgerechnet etwa 1,60 Euro. Der Nachtisch kostet extra, knapp 40 Cent. Im Kühlschrank neben der Theke stehen Wasser und Cola, alles billiger als im Supermarkt. Eine Kollegin von Zübeyde stellt noch schnell eine Tafel mit dem Tagesmenü vor die Tür. Da wartet schon eine ganze Schlange an Leuten. Um 12 Uhr dürfen sie schließlich rein.
Geduldig stehen auch Elif und ihr Mann Mehmet in der Reihe im Mittelgang zwischen den weißen Tischen. Sie zahlen an der Kasse, nehmen sich ein Tablett und kommen schließlich zur Essenausgabe bei Zübeyde. Die wünscht guten Appetit. Die beiden setzen sich zu einem älteren Herrn an den Tisch. Elif erzählt, dass sie in einem anderen Stadtteil von Istanbul wohnen, eine gute halbe Stunde mit der Straßenbahn entfernt.
Rente ohnehin klein
"Wir wussten nichts von diesem Restaurant. Wir kommen eigentlich immer nur in dieses Viertel, wenn ich zum Zahnarzt muss. Beim letzten Mal haben wir zufällig den Eröffnungstag hier erwischt. Jetzt kommen wir jedes Mal, wenn ich zum Zahnarzt muss, her."
Elif ist 49 und Hausfrau, sie trägt dunkelblonde kurze Haare, eine Stoffhose, T-Shirt und einen Rucksack, ihr Mann Mehmet T-Shirt und Shorts. Er ist 61 und Rentner. In der Türkei kann man verhältnismäßig früh in Ruhestand. Dafür ist die Rente in der Regel sehr niedrig. Die beiden haben angefangen, sich einzuschränken.
Früher sind wir jeden Samstag Essen gegangen. Das haben wir jetzt gestrichen.
Er gehe gern in Cafés, sagt Mehmet - aber auch das habe er stark reduzieren müssen. "Ich bin drei-, viermal die Woche gegangen, jetzt vielleicht noch einmal. Dabei mag ich es, in Cafés zu sitzen. Und dann hab ich mir zum Beispiel früher Zigaretten gekauft - Packungen. Jetzt drehe ich selber. Hab‘ Tabak in meiner Tasche. Wir sparen an allem in unserem Leben."
Nicht das klassische Bild von Bedürftigen
Um sie herum füllen sich die Tische, es sind junge Studenten dabei, Männer in schmutzigen Arbeiterhosen und ältere Paare. Mehmet erzählt weiter: "Alkoholische Getränke kaufen wir auch nicht mehr - ich brenne das Zeug jetzt zu Hause. Wenn das so weitergeht, stell ich demnächst noch Sprit fürs Auto zu Hause selber her." Seine Frau lacht und verdreht die Augen - es ist verboten, zu Hause selbst zu brennen. Trotzdem machen immer mehr Türken dies, vor allem, seit der beliebte Raki-Schnaps so teuer geworden ist. Die Regierung hat die Steuern auf Alkohol drastisch erhöht.
"Wir haben noch ein Auto, aber das lassen wir immer öfter stehen. Für alles finden wir eine Lösung. Urlaub, Verreisen - haben wir auch gestrichen." Die beiden haben nicht nur ein Auto. Sie leben auch in der eigenen Wohnung. Das klassische Bild eines Bedürftigen sieht anders aus.
Zübeyde steht in roter Schürze und schwarzem Kopftuch an der Essensausgabe.
Murat Yazici von der Istanbuler Stadtverwaltung sagt zu der Suppenküche: "Hätten wir dieses Projekt als Sozialhilfe geplant, hätten wir tatsächlich einen größeren bürokratischen Aufwand betreiben müssen." Bürger hätten ihr niedriges Einkommen bescheinigen oder die Stadtverwaltung hätte diese Menschen zu Hause besuchen und sich ein Bild von ihren Verhältnissen machen müssen. "Damit hätten wir das Projekt gelähmt. Aber dadurch, dass wir hier eine warme Mahlzeit anbieten, für die wir einen Preis verlangen, der nur die Kosten deckt, ersticken wir eben nicht in Bürokratie."
"Jeder kann kommen"
Vor anderthalb Monaten hat die Stadt Istanbul das Lokal eröffnet. Pro Tag werden 700 Essen ausgegeben. Wenn es nicht reicht, holen sie nochmal 100 bis 150 Essen aus der Zentralküche der Stadt nach, sagt Yazici. "Jeder kann kommen. Klar, wir würden uns wünschen, dass nur solche Bürger kommen, die auf so etwas angewiesen sind und niemand einem anderen das Essen quasi wegnimmt. Wenn Menschen kommen, denen es finanziell gut geht, dann finden wir das zwar nicht gut. Aber wir führen keine Kontrolle durch - wir vertrauen unseren Bürgern."
Auf einer Tafel steht das Angebot und der Preis der Suppenküche.
Er sitzt im ersten Stock des Lokals. Der Raum ist hell, weiß gestrichen. An den Wänden hängen gerahmte Werbeplakate der Stadt. Es wirkt etwas kahl. Einen Stock tiefer packt Mehmet ein in Plastikfolie eingeschweißtes Brötchen auf seinem Tablett aus. "In der Türkei ist es so: Was man heute kauft, kriegt man morgen nicht mehr zum selben Preis."
Elif sitzt ihm gegenüber. Sie hat schon mit der Suppe angefangen, legt aber den Löffel zur Seite. "Ich habe neulich einen großen Kanister Wasser gekauft. Vergangenen Monat kostete er noch 20 Lira, vor drei Wochen dann 22 Lira und jetzt 25 Lira. Das alles in nur einem einzigen Monat. Wahrscheinlich kostet der Kanister bald 30 Lira."
Frieren im Winter
Neben den Lebensmittelpreisen steigen vor allem auch die Nebenkosten. Die Erdgaspreise sind in die Höhe geschossen, sagt Elif. Die Heizung machten sie erst an, wenn es schneie und richtig eisig werde.
Jetzt ist Sommer. Da ist kaum was auf der Gasrechnung. Aber in zwei Monaten geht‘s dann wieder los. Dann ist wieder Schluss mit lustig. Dann laufen wir daheim in Decken gewickelt herum.
An der Essensausgabe hinter ihnen füllt Zübeyde einen Teller nach dem anderen, immer mit einem herzlichen Lächeln im Gesicht. "Ich erkenne die, die wirklich arm sind. Dann kriegen die von mir immer ein bisschen mehr auf den Teller. Und wenn sie kein Geld haben, dann spendieren wir ihnen das Essen."
Weitere Lokale geplant
Es ist zwar nicht die Grundidee dieses Lokals. Aber Murat Yazici ist wichtig zu sagen, dass es der Stadt auch um einen weiteren Aspekt geht: "Die rasanten Preisanstiege und die sinkende Kaufkraft der Bürger führen dazu, dass es für sie schwerer wird, sich gesund zu ernähren. Sie kriegen hier im Lokal genau dasselbe Essen wie das gesamte Personal der Stadtverwaltung."
Murat Yazici im Interview
Das Lokal ist das erste dieser Art in der Millionenmetropole. Bis September sollen es sechs sein, bis Ende des Jahres zehn, vor allem in Arbeiter- und Studentenvierteln. Das ist nicht viel in einer Stadt mit 17 Millionen Einwohnern. Yazici schätzt, dass etwa eine Million Menschen solche Hilfe bräuchte. Aber das könnten sie nicht leisten.
Mehmet ist inzwischen bei den überbackenen Frikadellen angekommen. Es schmeckt ihm - auch, wenn er scherzt: "Wenn ich das mit dem Essen meiner Frau vergleiche, ist das natürlich nichts - naja, ich ess bei ihr seit 30, 35 Jahren dasselbe." Elif schaut ihn mit einem durchdringenden Blick an. Dann lacht sie auch.
Unterstützung von den Kindern
Die beiden haben eine 30-jährige Tochter, sie ist verheiratet. "Um ehrlich zu sein, sie unterstützt uns. Sie zahlt unsere Einkäufe im Supermarkt." Das scheint die beiden aber nicht wirklich zu bedrücken. "Wenn meine Tochter und ihr Mann von der Arbeit kommen, essen sie bei uns."
Das Paar macht einen unbeschwerten Eindruck. Sie wissen, betonen sie, dass es anderen hier deutlich schlechter geht. Allerdings: Um die Lage in ihrem Land macht Elif sich durchaus Gedanken. "Ich sorge mich um die Zukunft unserer Kinder, wirklich. Wir selbst kommen schon irgendwie über die Runden, aber die jungen Menschen - kein Kinobesuch mehr und nichts. Die können sich kaum noch sozialisieren. Wenn das Geld fehlt, wirkt sich das auf alles aus."
Mittelstand rutscht langsam ab
Sie hat alles aufgegessen. Bei ihrem Mann Mehmet ist nur ein kleines Stück Frikadelle übrig. Das Geschirr auf ihren Tabletts ist ordentlich zusammengestellt. Bevor sie aufstehen, will auch der 61-Jährige noch was loswerden: "Ich bin zwar noch nicht so alt, aber ich habe keine großen Erwartungen mehr. Was sollte ich denn wollen? Ein Haus, ein schickes Auto oder ein Flugzeug?"
Bei den jungen Menschen sehe das anders aus. "Selbst wenn sie ein gutes Gehalt haben, reicht es heute längst nicht mehr, um sich beispielsweise in Istanbul eine Wohnung und ein Auto zu kaufen. Selbst, wer 100.000 Lira im Monat verdient, kann sich keine Wohnung kaufen. Und mit einer Rente kann man heute nicht mal mehr die Miete zahlen."
Yazici von der Stadtverwaltung kennt die Lage nur zu gut - auch die des Mittelstands, der langsam abrutscht. Sie wollen mit dem Lokal Vorbild sein, auch für andere Städte in der Türkei. Nur das könnte Probleme schaffen.
Nicht nur positive Reaktionen
Yazicis Chef ist der Istanbuler Bürgermeister Imamoglu von der oppositionellen CHP. Er gilt als möglicher Gegenkandidat von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Wahlen im nächsten Jahr. Immer wieder bekommt er bei Projekten in der Stadt Gegenwind aus Ankara - angeblich, um ihn auszubremsen. "Leider ist das eine Realität. Bis jetzt haben wir, was das städtische Lokal angeht, noch keine Probleme. Aber das große öffentliche Interesse auch in den Medien macht uns schon ein bisschen Sorgen. Wir können es nicht glauben, dass es auf so ein gutes Projekt negative Reaktionen gibt."
Zübeyde packt einen Schöpfer Essen nach dem anderen auf die Teller, immer noch mit ihrem herzlichen Lächeln. Die einen heben den Kopf nicht, wirken beschämt. Andere lächeln zurück und bedanken sich. Die meisten seien höflich und geduldig, sagt die 37 Jahre alte gelernte Köchin, die ihren neuen Job hier liebt - auch, wenn sie weiß, dass viele ihrer Kunden große Sorgen haben.
Auch Straßenbahnfahren ist nicht mehr drin
"Ich denke mir immer: Wie gut, dass dieser Laden eröffnet wurde", sagt Zübeyde. "Viele Menschen haben wenig Geld - und warme Mahlzeiten sind in üblichen Restaurants unwahrscheinlich teuer. Hier kriegen sie ein warmes Essen für wenig Geld. Das macht mich glücklich."
Elif und Mehmet brechen langsam auf - zum Zahnarzt. Wann sie das nächste Mal ins städtische Lokal kommen? Beim nächsten Zahnarzttermin, sagt Mehmet. Denn extra mit der Straßenbahn herfahren: Das rechne sich nicht.