Konsum in der Krise Was Lippenstift über die Konjunktur aussagt
Wenn in Krisenzeiten keine großen Ausgaben drin sind, reicht auch mal eine hübsche Kleinigkeit. Dieses Phänomen nennt sich "Lipstick-Effekt". Funktioniert der Absatz von Lippenstift als Gradmesser der Wirtschaft?
Große Anschaffungen in Zeiten der Inflation: für viele kaum mehr realisierbar. Alltagsluxus ist dann immer gefragter - zum Beispiel in Form eines neuen Lippenstifts. Dieses Phänomen beschreibt der sogenannte Lipstick-Effekt.
"Heute steht der Lipstick-Effekt dafür, dass Menschen sich auch gerade in Krisensituationen etwas Gutes tun wollen, also ein sogenannter Indulgence-Effekt besteht", erklärt Jörg Funder von der Hochschule Worms. Indulgence bedeutet auf Deutsch in etwa: "Sich selbst etwas verwöhnen, es sich im kleinen Ausmaß gut gehen lassen."
Schön sein in unschönen Zeiten
Dabei ist es nicht immer nur der knallrote Lippenstift, sondern auch Parfüm oder eine pudrig duftende Gesichtscreme. Im vergangenen Jahr stieg in Deutschland der Verkauf von dekorativer Kosmetik laut dem Industrieverband Körperpflege und Waschmittel um 16 Prozent. Und das, obwohl Verbraucher insgesamt weniger konsumiert haben.
Dennoch - Kapitalmarktexpertin Gertrud Traud von der Landesbank Hessen/Thüringen zweifelt an der Bedeutung des Effekts. Sie sieht eher eine psychologische Erklärung: "Der Lippenstift-Effekt ist ein zusätzlicher Indikator für die Konjunktur, aber er ist kein Vorlaufindikator", so die Expertin. Vielmehr hätten Studien der vergangenen Jahre gezeigt, dass viele Frauen sich gerade in Krisenzeiten gerne schön machen möchten: "Die Zahlen zeigen, dass der Anteil von Kosmetik und Kleidung in Krisenzeiten steigt."
Ähnlicher Effekt nach dem 11. September
Es ist ein bekannter Effekt. Schon in der "Großen Depression", der schweren Wirtschaftskrise in den USA der 1930er-Jahre, kauften die Menschen mehr Lippenstifte. Ein ähnliches Bild beobachtete Leonard Lauder, damals Geschäftsführer des Kosmetikherstellers Estée Lauder, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
Konsum-Experte Funder beobachtet den Effekt auch anderswo. "Wir sehen diesen Lipstick-Effekt auch in anderen Kategorien", sagt er und nennt als Beispiel Tagesausflüge, Schmuck oder auch gutes Essen: "Also Genuss im weitesten Sinne." Es gehe schlicht darum, sich etwas Gutes zu tun.
Marktforscher sehen höhere Verkaufszahlen
Experten schätzen, dass vergangenes Jahr acht Millionen Menschen in Deutschland einen Lippenstift gekauft haben - nach Angaben der Marktforscher des Marktforschungsinstituts GfK sind das zwei Millionen mehr als noch 2021.
Doch hier könnte - wie bei so vielem - auch das Abebben der Pandemie eine Rolle spielen: "Für die aktuelle Krise würde ich gerne noch ergänzen, dass es vielleicht noch damit zusammenhängt, dass in der Nach-Coronazeit, in der Nach-Maskenzeit die Nachfrage nach dekorativen Dingen wieder steigt, weil wir es endlich wieder dürfen", sagt Volkswirtin Traud. Als Glaskugel der Konjunktur taugt die spiegelnde Lippenstifthülse wohl nur bedingt.