Trend zur Frühverrentung "Was, du arbeitest noch?"
Vor allem bei Babyboomern ist der Wunsch nach Frühverrentung groß. Das zeigt die wichtigste Studie zum Thema, die dem ARD-Magazin Panorama exklusiv vorliegt. Fachleute halten den Trend für alarmierend.
Besonders unter den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer ist der Trend zur Frühverrentung ungebrochen. 68 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen spätestens mit 64 Jahren in Rente gehen, zeigt die repräsentative Studie "lidA - leben in der Arbeit", die dem ARD-Magazin Panorama exklusiv vorliegt. Fachleute bewerten diesen Trend als alarmierend, da er sowohl den Arbeitskräftemangel verschärft als auch die Finanzierbarkeit der Renten gefährdet.
"lidA" ist die größte und wichtigste Studie in diesem Bereich, da sie seit 2011 regelmäßig mehrere Tausend ältere Erwerbstätige aus den sogenannten Babyboomer-Jahrgängen dazu befragt, wie lange sie arbeiten wollen und können. Durchgeführt wird sie von der Bergischen Universität Wuppertal.
"Unser Hauptbefund ist, dass unter den Babyboomern eine ausgeprägte Kultur des Frühausstiegs herrscht", sagt Studienleiter Martin Hasselhorn. "Der frühe Erwerbsausstieg ist die Norm und viele Personen, die 63, 64 oder 65 Jahre alt sind und noch in Arbeit stehen, kennen es, dass man sie ganz erstaunt fragt: Was, du arbeitest noch?“
30 Prozent wollen nur bis 62 arbeiten
Die Befragten gehören zu den Geburtenjahrgängen 1959 bis 1971. Die meisten Befragten geben an, dass sie mit 64 Jahren nicht mehr arbeiten wollen. Dazu passen aktuelle Zahlen vom Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung, die zeigen, dass in seit einigen Jahren vermehrt Menschen vor der Regelaltersgrenze in den Ruhestand gehen und hierfür Rentenabschläge in Kauf nehmen.
Auch Joachim van Beuning hat seinen Job als angestellter Fahrschullehrer früh an den Nagel gehängt. "Irgendwann will man das Leben ja auch mal genießen", sagt er. Länger zu arbeiten, das wäre für den 64-Jährigen nicht in Frage gekommen.
Nun jobbt er immer mal wieder, aber nur, wenn es ihm passt. Etwa als Guide bei Motorradtouren: "Ich kann mir jetzt quasi aussuchen, was ich mache. Also nicht der Chef sagt mir, du hast das jetzt zu tun, sondern ich kann jetzt sagen: Ja, ich mache das oder ich mache das nicht. Und das ist eigentlich ein tolles Gefühl."
Auffällig ist, dass unter den jüngeren Babyboomer-Jahrgängen sogar noch mehr Menschen früh in Rente gehen wollen. Wollten unter den 1959 Geborenen noch 69 Prozent bis zum normalen Renteneintritt arbeiten, sind es unter den 1965 Geborenen nur noch etwa 33 Prozent.
"Menschen möchten mehr freie Zeit haben"
"Der häufigste Grund ist, die Menschen möchten mehr freie Zeit haben", sagt Hasselhorn. Laut Studie ist dieser Trend unabhängig davon, wie stark die körperlich Belastung im Job gewesen sein. Auch Menschen, die keiner physisch belastenden Tätigkeit nachgegangen sind, wollten früh in Rente.
Selbst ein erfüllender Beruf und gutes Einkommen führen nicht dazu, länger arbeiten zu wollen. Die Bereitschaft, lange zu arbeiten, ist in der Gruppe mit dem geringsten Einkommen am höchsten. Diese Gruppe will von allen Einkommensgruppen am längsten arbeiten. Dabei hat sie mit Abstand die kürzeste Lebenserwartung von allen Einkommensgruppen. In diesem Fall ist das längere Arbeiten offenbar eher ein "länger arbeiten müssen".
Arbeitgeber fürchten um Fachkräfte
Den Trend beobachten auch Arbeitgeber mit Sorge. Hans-Jürgen Vollert leitet das Familienunternehmen Vollert Anlagenbau, verkauft unter anderem Rangier-Roboter in die ganze Welt. Schon jetzt fehlen ihm die Fachkräfte. Regelungen wie unbegrenzte Hinzuverdienst-Möglichkeiten für Rentnerinnen und Rentner, die seit Anfang des Jahres gelten, ziehen bei seinen Beschäftigten nicht.
"Wenn wir fragen: Mensch, möchtest du nicht noch vielleicht ein, zwei Jahre was machen? Dann kommt schon oft ein Nein." Und viele sagten einfach, dass es für sie finanziell passe. "Die Freizeit ist einfach unheimlich wichtig." Nur ein einziger seiner Mitarbeiter habe zugesagt, länger zu arbeiten.
Massive Konsequenzen für das Rentensystem
Die Konsequenzen für das Rentensystem werden in den kommenden Jahren massiv sein, betont Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft. Schon jetzt fließt etwa ein Viertel des Bundeshaushalts als Zuschuss in die Rentenkasse.
Laut der Wirtschaftsweisen Schnitzer muss die Politik nachjustieren: "Was man vorhat, ist ja tatsächlich, den Beitragssatz zu stabilisieren, das Rentenniveau zu stabilisieren, auch das Renteneintrittsalter nicht weiter zu erhöhen. Kann das funktionieren? Nur dann, wenn der Zuschuss, der aus dem Bundeshaushalt kommt, aus Steuern finanziert wird, immer größer wird."
Das sei Geld, das dann an andere Stelle fehlen wird. "Die Investitionen in die Infrastruktur, die Investitionen in Klimaneutralität. Die Investitionen, die wir für Digitalisierung brauchen - all die großen Themen, dafür wird kein Geld mehr da sein", befürchtet Schnitzer
Arbeitsministerium gibt sich gelassen
Zuständig für die Rente ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Auf die Frage, wie das Rentensystem auf Dauer finanziert werden soll, antwortet das Ministerium schriftlich: "Fakt ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung finanziell sehr gut aufgestellt ist. Entscheidend für diese günstige Entwicklung ist der sehr stabile Arbeitsmarkt, weil es so viele versicherungspflichtige Beschäftigte gibt wie nie zuvor."
Neue Gegenmaßnahmen gegen den Trend zur Frührente plant das Ministerium aktuell offenbar nicht. Wie eine Modellrechnung der "Stiftung Finanztest" zeigt, haben die letzten Beschlüsse der Bundesregierung die Frührente sogar noch attraktiver gemacht.
Dass es Handlungsbedarf gibt, ist der Politik übrigens schon lange bekannt. Schon vor zwei Jahren warnte der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums die Koalition: "Der Beirat rät davon ab, in der politischen Diskussion die Illusion von langfristig gesicherten Haltelinien weiter aufrechtzuerhalten."