Netzagentur übernimmt Kontrolle Was wird aus Gazproms Deutschlandgeschäft?
Die Bundesnetzagentur hat die Kontrolle über die deutsche Tochter von Gazprom übernommen. Ist der russische Konzern damit in Deutschland enteignet? Was bedeutet das für die Gasversorgung? Antworten auf wichtige Fragen.
Was hat das Bundeswirtschaftsministerium beschlossen?
"Die Bundesnetzagentur wird heute für eine Übergangszeit als Treuhänderin für Gazprom Germania eingesetzt", teilte die Bonner Behörde gestern mit. Dies hatte zuvor Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck angekündigt. Die Netzagentur übernimmt für eine Übergangszeit treuhänderisch die Funktion einer Gesellschafterin. Sie soll unter anderem für eine ordnungsgemäße Geschäftsführung sorgen.
Was bedeutet das genau?
Mit ihrer Anordnung hat die Bundesregierung die Aufsicht über die deutsche Tochter des russischen Gasriesen Gazprom übernommen. Der Konzern ist hierzulande für 40 Prozent der Gasversorgung zuständig und damit der größte Lieferant. Die Bundesnetzagentur nehme bis zum 30. September alle Stimmrechte aus Geschäftsanteilen an der Gazprom Germania wahr und sei weisungsberechtigt, hieß es. Mit diesem Schritt greift der Staat in beispielloser Form in den Gasmarkt ein. Die Bundesnetzagentur übernimmt die Rolle der Eigentümerin.
"Wir sind uns der Verantwortung für die sichere Gasversorgung bewusst, die mit dieser Aufgabe verbunden ist. Unser Ziel wird es sein, dass Gazprom Germania im Interesse Deutschlands und Europas geführt wird", sagte Bundesnetzagentur-Präsident Klaus Müller gegenüber tagesschau.de. "Wir wollen alle notwendigen Schritte unternehmen, um die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten. Die Geschäfte der Gazprom Germania und ihrer Tochterunternehmen sollen in diesem Sinne kontrolliert weitergeführt werden."
Um welche die Geschäfte geht es?
Gazprom Germania umfasst drei große Geschäftsbereiche. Über die Tochter Astora betreibt die Gesellschaft unter anderem den größten Gasspeicher Deutschlands im niedersächsischen Rehden, auf den ein Fünftel der deutschen Speicherkapazität entfällt.
Daneben ist sie Eigentümerin weiterer wichtiger Unternehmen der deutschen Gaswirtschaft. Dazu gehören etwa der Gashändler Wingas, der Stadtwerke beliefert, und eine Minderheitsbeteiligung am Gastransportunternehmen Gascade. Dabei geht es auch um Lieferverträge mit Gazprom Export.
Dem Geschäftsbericht von 2020 zufolge hatte Gazprom Germania inklusive seiner Töchter 1543 Mitarbeiter, darunter 339 in Berlin. Die 1990 gegründete Gesellschaft verfügt über Gasspeicher in Deutschland und Österreich mit einer Kapazität von insgesamt sechs Milliarden Kubikmeter.
Welche Aufgaben hat die Bundesnetzagentur nun?
Durch die Treuhänderschaft kann die Bundesnetzagentur wie die Eigentümerin von Gazprom Germania agieren. Ihre Aufgabe ist es, die drei Geschäftsbereiche zu sichern. Dazu gehört etwa die Einhaltung des Gasspeichergesetzes - sprich die Erfüllung der gesetzlichen Mindestmaße. Knappe Füllstände der Reserven hatten wegen des Ukraine-Krieges Befürchtungen ausgelöst, die Versorgung mit dem Brennstoff könne knapp werden.
Zudem soll die Behörde die Zeit nutzen, um Ordnung in die Verhältnisse zu bringen. Sie sei unter anderem dazu berechtigt, Mitglieder der Geschäftsführung auszutauschen und Weisungen zu erteilen. "Die Wahrnehmung der Stimmrechte der Gesellschafter wird ausgeschlossen", hieß es vom Bundeswirtschaftsministerium.
Was heißt das für die Gasversorgung?
Was sich nun konkret ändert, ist vorerst unklar. Beobachtern zufolge finden derzeit zahlreiche Gespräche statt. Viele Fragen scheinen dabei noch offen. Zunächst müsse der Betrieb gesichert fortgeführt und die genaue Situation im Unternehmen Gazprom Germania verstanden werden.
Die Versorgungssicherheit sei aktuell gewährleistet, sagte Wirtschaftsminister Habeck. Auch laut aktuellem Lagebericht der Bundesnetzagentur ist die Versorgung mit Gas stabil. Die Netzbetreiber melden demnach keine besonderen Vorkommnisse.
Auch wenn sich die russische Seite nach dem Schritt der Bundesregierung noch nicht zur Frage der weiteren Lieferungen geäußert hat, geht die Bundesregierung offenbar davon aus, dass die Gaslieferungen von Russland nicht unterbrochen werden. Ansonsten sei die Treuhandschaft der Bundesnetzagentur zum Weiterbetrieb der Gazprom Germania nicht nötig. Habeck und auch Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP hatten gestern nochmals betont, dass die Bundesregierung trotz des Ukraine-Krieges einen Einfuhrstopp für russisches Gas derzeit ablehnt.
Wie reagiert Russland auf die Entscheidung der Bundesregierung?
Der russische Präsident Wladimir Putin warnte einen Tag nach der Entscheidung des Bundeswirtschaftsministeriums allgemein vor einer Verstaatlichung russischer Vermögen im Ausland. Er beklagte etwa Druck seitens der Behörden auf den Staatskonzern Gazprom. Es würden in einigen Ländern "grobe Maßnahmen" ergriffen, sagte er - offenbar auch mit Blick auf die Maßnahme der Bundesregierung.
Der Konzern Gazprom äußerte sich bisher nicht explizit zur Übernahme der Aufsicht über die bislang von Russland geführten Teile der deutschen Gasversorgung. Er forderte seine ehemalige Tochterfirma Gazprom Germania sowie Gazprom Marketing & Trading aber inzwischen zum Verzicht auf den Markennamen und die Verwendung des Markenlogos auf. Grund sei, "eine weitere Identifizierung ihrer Aktivitäten mit der Gazprom-Gruppe zu vermeiden", teilte Gazprom über das soziale Netzwerk Telegram mit. Der einstige Mutterkonzern ziehe außerdem alle seine Manager aus Führungsgremien von Gazprom Germania zurück, hieß es. Das betreffe auch alle Tochterfirmen von Gazprom Germania.
Was sind die Gründe für die Anordnung?
Wirtschaftsminister Habeck begründete die Entscheidung mit den unklaren Rechtsverhältnissen und einem Verstoß gegen Meldevorschriften. Ziel sei es, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und den russischen Einfluss in Teilen zu reduzieren. Die Gazprom Germania GmbH betreibe in Deutschland selbst und durch seine Tochtergesellschaften kritische Infrastrukturen, so der Grünen-Politiker. "Sie ist im Bereich Gashandel, Gastransport und -speicher tätig und für die Gasversorgung in Deutschland von überragender Bedeutung."
Der Mutterkonzern hatte am Freitag überraschend mitgeteilt, dass er sich von Gazprom Germania und deren Beteiligungen zurückzieht. "Nicht mitgeteilt wurde, wer der neue wirtschaftliche und rechtliche Eigentümer dieser Beteiligung sein soll", so Habeck. Dies sei für sich genommen schon ein Verstoß gegen die Meldepflicht im Rahmen der Außenwirtschaftsverordnung.
Zwar habe das Wirtschaftsministerium von einem "mittelbaren Erwerb" der Gazprom Germania durch die Gesellschaften JSC Palmary und Gazprom Business Export Services LLC erfahren. Bei kritischer Infrastruktur müsse aber jeder Erwerb durch einen Nicht-EU-Investor zuvor vom Wirtschaftsministerium genehmigt werden. Es sei unklar, "wer wirtschaftlich und rechtlich hinter den beiden Unternehmen steht". Man werde Energieinfrastrukturen in Deutschland nicht willkürlichen Entscheidungen des Kremls aussetzen, sagte Habeck weiter.
Ein weiterer Grund sei auch die Möglichkeit eines technischen Konkurses von Gazprom Germania gewesen, heißt es aus Kreisen. Zwar sind die Energiekonzerne von den westlichen Sanktionen befreit, doch seit dem Inkrafttreten gingen Banken und Geschäftspartner auf Distanz zu russischen Firmen. Wenn aber der deutsche Staat das Geschäft führt, ist das für die Geldgeber eine andere Situation.
Darüber hinaus habe der Erwerber die Liquidierung der Gazprom Germania - also die Abwicklung der Gesellschaft durch den Verkauf der Vermögensgegenstände - angeordnet, was nicht rechtmäßig sei, solange die Übertragung nicht genehmigt sei. "Eine Liquidierung hätte das Ende der rechtlichen Existenz der Gazprom Germania zur Folge."
Was hätte das für die Lieferverträge bedeutet?
Eine Liquidierung hätte wohl Auswirkungen auf die Verträge von Wingas mit Gazprom Export gehabt, über die das Gas nach Deutschland kommt. Laut Beobachtern stand das Szenario im Raum, dass durch den Ausfall eines Vertragspartners die Verpflichtungen entfallen. Dann hätte es die Notwendigkeit gegeben, mit Russland in der aktuellen Situation neue Lieferverträge aushandeln zu müssen - mit Kettenreaktionen in der deutschen Energiewirtschaft.
"Der Verdacht ist dabei, dass Gazprom die alten Verträge, bei denen viel dafür spricht, dass sie einen günstigeren Preis als den aktuellen Marktpreis beinhalten, loswerden oder wirtschaftlich aufbessern wollte", erklärt Christian von Hammerstein, Anwalt in der Berliner Anwaltskanzlei Raue, im Gespräch mit tagesschau.de. Das sei jedoch Spekulation, weil die Verträge geheim seien, so der Experte für Energierecht.
Nach deutschem Recht war eine Abwicklung laut von Hammerstein ohnehin gar nicht möglich. Dafür sei die komplette Bedienung aller Verbindlichkeiten von Banken, Kunden oder Lieferanten sowie der Verkauf von Vermögenswerten wie Beteiligungen und Gasspeicher nötig gewesen. "Wir wissen, dass es in den vergangenen zwei Wochen diese Bemühungen von Gazprom Germania gab und Gasversorger auf einen möglichen Kauf angesprochen wurden. Alle haben abgelehnt", sagt der Anwalt.
Ist Gazprom in Deutschland nun enteignet?
Habeck greift für die Anordnung auf einen Paragrafen im Außenwirtschaftsgesetz zurück. Demzufolge ist die Einsetzung einer Treuhandschaft zur Abwendung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit rechtlich möglich. Eine Enteignung, über die zuletzt spekuliert wurde, ist das nicht. Denn die Eigentumsverhältnisse ändern sich vorerst nicht.
Wie geht es weiter?
Nicht nur um die Wahrnehmung der Stimmrechte oder den Austausch der Geschäftsführung von Gazprom Germania muss sich der Wirtschaftsminister jetzt kümmern - sondern möglicherweise auch um Liquidität und Sicherheit. "Er muss auch dafür sorgen, dass die Kunden beruhigt werden. Etwa über Bürgschaftsverträge mit Banken oder Kredite der KfW", so Experte von Hammerstein. Vor allem müsse er auch sicherstellen, dass Gazprom die Verträge nicht einfach kündigen kann.
Wie es jetzt allerdings mit den Vermögenswerten von Gazprom Germania weitergeht, scheint noch offen. "Anteilseigner der Geschäftsanteile ist weiterhin die ominöse Gesellschaft Palmary in St. Petersburg", sagt von Hammerstein. Zudem sei die Verfügung der Treuhänderschaft zeitlich begrenzt, weil im entsprechenden Gesetz sechs Monate vorgeschrieben seien.
"Bis Ende September wird nicht viel anbrennen. Für die Zeit danach gibt es zwei Szenarien: entweder ein Verkauf der einzelnen Bereiche oder eine Enteignung", meint der Anwalt. Dann stehe allerdings noch die Frage im Raum, ob das mit oder ohne Entschädigung geschehe. Bei einem Erlös müsse sich die Regierung rechtfertigen, wohin das Geld fließt - im Zweifel nach Russland. "Erst einmal ist der zeitliche Druck raus. Für die Zeit ab Oktober muss aber ein Plan her."