Innenstädte der Zukunft Mehr als nur Shopping
Corona hat den stationären Einzelhandel stark getroffen. Doch Händler und Branchenexperten hoffen auf neue Konzepte. Was soll künftig in den Innenstädten passieren?
Wenn Markus Pfeffer durch die Stockwerke geistert, dann müsste er eigentlich schlechte Laune bekommen. Denn der Gebäudekomplex in Gießen ist komplett leergeräumt. Tausende Quadratmeter am Anfang der Haupteinkaufsstraße Seltersweg - und innen ist es stockdunkel. Im rechten Teil war früher ein Textilhändler untergebracht, im linken Teil eine Schuhkette, die im Dezember 2020 aber Insolvenz anmelden musste. Trotzdem ist Pfeffer alles andere als missmutig: "Das ist ein Konzept der Zukunft, das ist die Zukunft der Fußgängerzone". Der 54-Jährige bezieht sich auf das, was kommen wird: ein Umbau mit neuen Mietern. Die Lokalpresse spricht von einem visionären Projekt.
Mischnutzung statt Konsumtempel
Pfeffer ist Geschäftsführer des BID Seltersweg, einem Zusammenschluss von Eigentümern, deren Häuser an der Einkaufsstraße liegen. Er erzählt, wie das Gebäude in Zukunft genutzt werden wird: "Im Erdgeschoss entsteht ein Lebensmitteleinzelhandel, in die weiteren Geschosse kommen große Arztpraxen, aber auch eine Kindertagesstätte." Zusätzlich seien Wohnungen geplant, und der Keller, wo früher Kleidung verkauft wurde, werde zu einer Tiefgarage umgewandelt. "Ich war überrascht, als der Architekt sagte, wir können da auch Parkplätze draus machen."
Der Investor, eine örtliche Baufirma, plant für 2023 die Fertigstellung. Aus einem reinen Konsumtempel wird so eine Immobilie mit Mischnutzung. "Der Einzelhandel muss sich anpassen. Wir werden eine Veränderung der gesamten Flächensituation haben, weg von den ganz großen Flächen", prognostiziert Pfeffer die Entwicklung in Deutschland.
Kleinere Filialen, weniger Verkaufsfläche
Er ist mit dieser Einschätzung nicht allein. "Das sehen wir schon seit Jahren, dass die Flächen kleiner werden", sagt Andrea Back-Ihrig, Partnerin beim Immobilienspezialisten bulwiengesa. Die Entwicklung habe schon vor Corona eingesetzt. Als Beispiel nennt sie Mediamarkt-Saturn. Der Elektronik-Konzern richte in den Innenstädten inzwischen eher kleinere Filialen ein. "Die Flächen rücken auch mehr ins Erdgeschoss, das heißt wir werden weniger Verkaufsflächen sehen, die im Untergeschoss oder zweiten, dritten Obergeschoss liegen", so Back-Ihrig.
Dahinter steckt unter anderem der Gedanke, den stationären Handel immer stärker mit dem boomenden Online-Geschäft zu verzahnen. Künftig also weniger Artikel im Laden, dafür die Möglichkeit, direkt vor Ort aus dem gesamten Internet-Sortiment bestellen zu können. Die Filiale mutiert zum Showroom.
Corona stürzte viele in die Insolvenz
Was sich so vor 2020 schon angedeutet hatte, wurde durch Corona massiv verstärkt. Die Pandemiefolgen spüren viele stationäre Einzelhändler noch immer, besonders die Textilhändler. Im Vergleich zu 2019 erwartet der Handelsverband HDE für dieses Jahr einen Umsatzeinbruch im Bekleidungsgeschäft von 37 Prozent. Bekannte Unternehmen mussten schon 2020 Insolvenz anmelden oder sich in ein Schutzschirmverfahren retten: Esprit, Appelrath Cüpper, Adler, Hallhuber, Strenesse, Tom Tailor. Hinzu kamen Ladenketten wie der Küchenspezialist Poggenpohl, der Taschenhersteller Picard, die Sportausrüster Hübner und McTrek, das Schuhhaus Dielmann und allen voran Galeria Kaufhof mit Karstadt - auch wenn manche Unternehmen schon vor der Pandemie in finanziellen Schwierigkeiten steckten.
Inzwischen strömen zwar wieder mehr Kunden in die Innenstädte, das Niveau von 2019 ist aber noch längst nicht erreicht. Das verdeutlichen Zahlen des Datenanbieters Hystreet, der täglich die Passantenfrequenz in Deutschlands Innenstädten misst. Beispiel Schildergasse in Köln: 2019 liefen in den Sommermonaten Juni bis August noch knapp 5,3 Millionen Menschen durch die Einkaufsstraße. In diesem Jahr waren es knapp 4,5 Millionen, 15 Prozent weniger. Ähnlich sah es auf der Spitalerstraße in Hamburg aus; die Neuhauser Straße in München registrierte sogar einen Rückgang von 31 Prozent.
Hohe Ladenmieten in den Ballungszentren
Neben der Kundenzurückhaltung kam für die Einzelhändler schon vor Corona ein weiteres Problem hinzu: die hohen Mieten. Laut Statistik des Immobilienverbandes IVD sind in den 40 größten Städten Deutschlands die Ladenmieten in den Top-Lagen deutlich nach oben geklettert. Mussten die Inhaber kleinerer Geschäfte (bis 150 Quadratmeter) im Jahre 2010 noch 138 Euro pro Quadratmeter zahlen, waren es im vergangenen Jahr 177 Euro. Für große Geschäfte stiegen die Mieten von knapp 95 Euro auf 121 Euro pro Quadratmeter. Das sind wohlgemerkt die Durchschnittsmieten: In München zahlen manche Einzelhändler nach Angaben des Immobiliendienstleisters Jones Lang LaSalle bis zu 360 Euro pro Quadratmeter, in Berlin 330 Euro und auf der Zeil in Frankfurt 310 Euro.
Kein Wunder, dass so mancher Händler zurückhaltender geworden ist, wie Immobilienexpertin Back-Ihrig beobachtet. "Wir sehen auch schon seit Längerem, dass die Mietvertragslaufzeiten kürzer werden und die Unternehmen sich nicht mehr so lange binden wollen an einen Standort. Und natürlich - durch Corona hat das nochmal einen zusätzlichen Schub erfahren." Die Branche erwartet nun, dass die Ladenmieten wegen des höheren Leerstands bald etwas sinken werden.
Trend zur Mischimmobilie
Bleibt die Frage, wer künftig in die Gebäude zieht, in denen früher Einzelhändler waren. Eine Antwort darauf hat zum Beispiel Albert Sahle parat, Geschäftsführer der Wohnbaugesellschaft Sahle Wohnen aus dem nordrhein-westfälischen Greven. Seinem Unternehmen gehört unter anderem das riesige Karstadt-Gebäude auf der Frankfurter Zeil. Der Warenhauskonzern zieht Ende 2025 aus. "Spätestens ab dem zweiten Obergeschoss werden es dann andere Nutzungen sein", weiß Sahle.
Er plant für die Zeit nach Karstadt einen Neubau mit unterschiedlichen Mietern. Im Untergeschoss würden ein Supermarkt und eine Drogerie-Kette einziehen, auch im Erdgeschoss und in der ersten Etage werde es noch Einzelhandel geben. Darüber könne er sich aber Wohnungen, Gastronomie oder eine Hotel-Kette vorstellen. "Von Motel One haben wir schon konkrete Interessensbekundungen", verrät Sahle.
Komplexere Bauten, aber mehr Vielfalt
Als Vermieter rechnet er dann sogar mit höheren Einnahmen. "Eine andere gewerbliche Nutzung - eine Hotelnutzung - wird man mit Sicherheit höherpreisig anmieten." Der Nachteil für ihn als Projektentwickler: Der Neubau einer sogenannten "Mixed Use"-Immobilie, also ein Gebäude mit ganz verschiedenen Mietern, ist teuer. "Das Bauen wird komplizierter, allein schon aus statischen Gründen, als wenn ich nur eine Fläche fünf Mal nach oben hin dupliziere und staple."
Der Vorteil für die Bürgerinnen und Bürger liegt für ihn dann aber auf der Hand. Die Einkaufsstraßen in den Innenstädten würden mit den vielen unterschiedlichen Mietern bunter und vielfältiger - statt nur Shopping-Meilen zusätzlich auch mal Hotels, Wohnungen, Kultureinrichtungen, Fitness-Studios, Gastronomie dazwischen. Diese Vorteile sieht auch Back-Ihrig: "Das ist auf jeden Fall eine positive Entwicklung, weil wir es ja oft so hatten, dass dann nach Geschäftsschluss niemand mehr in der Innenstadt war."