Interview

Diskussion um höhere Löhne "Da ist einigen Politikern der Gaul durchgegangen"

Stand: 22.10.2015 12:48 Uhr

Die Arbeitnehmer sollen endlich wieder spürbar mehr Lohn bekommen, so die Forderung vieler Politiker. Diese Debatte erschwere die Verhandlungen der Tarifpartner, meint der Experte Hilmar Schneider gegenüber tagesschau.de. Der Politik ist seiner Meinung nach "der Gaul durchgegangen".

Die Arbeitnehmer sollen endlich wieder spürbar mehr Lohn bekommen, so die Forderung vieler Politiker. Diese Debatte erschwere die Verhandlungen der Tarifpartner, meint der Experte Hilmar Schneider gegenüber tagesschau.de. Der Politik ist seiner Meinung nach "der Gaul durchgegangen". Schneider ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik an dem Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn.

tagesschau.de: Seit Monaten haben Politiker in Deutschland diverse Lohnmodelle öffentlich durchdiskutiert. Erst den Kombilohn, dann den Mindestlohn, jetzt folgen Diskussionen über den Investivlohn sowie Forderungen nach höheren Tarifabschlüssen. Wie viel Substanz haben diese Debatten?

Hilmar Schneider: Der Mindestlohn ist ein Unfug, der dem anderen Unfug Kombilohn entgegensetzt wird. Und am besten würde man beides lassen. Die Politik hat gemerkt, dass sie auf dem Holzweg ist - und jetzt hat sie den Ausweg Investivlohn gefunden. Dieser ist im Grunde eine gute Idee, da kann man nichts gegen sagen. Arbeitnehmer sollen am unternehmerischen Risiko beteiligt werden, das geschieht sowieso auf allen Ebene. Die Frage ist nur: Was hat die Politik da verloren? Das ist eine Angelegenheit, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter sich ausmachen können.

tagesschau.de: Und warum gibt es den Investivlohn dann nicht schon längst in den meisten Betrieben?

Schneider: Das Problem ist, dass sie für einen Investivlohn eine gewisse Vertrauensbasis brauchen. Wenn die Arbeitnehmer beteiligt werden, müssen sie am Ende des Geschäftsjahres auch über den Stand der Dinge aufgeklärt werden: "Was gibt es denn zu verteilen?" Und wenn die Arbeitgeber da nicht mit offenen Karten spielen, können sich diese jede Menge Ärger einhandeln. Für mittelständische Unternehmen ist es aber ein Problem, die Karten auf den Tisch zu legen. Denn das bedeutet ja, mögliche Wettbewerbsvorteile Preiszugeben. Deswegen hat das seit den 50er Jahren nie so richtig funktioniert. Und das wird auch eine staatliche Förderung nicht ändern.

"Tarifpolitik wird am Verhandlungstisch gemacht"

tagesschau.de: Warum hat die SPD das Thema höhere Löhne jetzt auf die Agenda gesetzt?

Schneider: Die Politik ist der Versuchung erlegen, sich die Früchte des Konjunkturaufschwungs an die eigene Brust zu heften. Seit Jahren werden Politiker geplagt von schlechten Nachrichten aus der Wirtschaft. Der Abbau der sozialversicherungspflichtigen Stellen war ja auch wirklich rasant zwischen 2001 und 2005. Und der Verteilungsspielraum war sehr karg. Jetzt kommt endlich eine Situation, in der man wieder etwas verteilen kann. Da ist bei einigen Politikern sicherlich der Gaul durchgegangen. Sie haben gesagt: „Jawoll, jetzt muss endlich wieder Kaufkraft geschaffen werden!“ Dabei waren aus der Wirtschaft schon entsprechende Signale gekommen.

tagesschau.de: Handelt es sich zurzeit also um eine Diskussion im luftleeren Raum?

Schneider: Die Tarifpolitik wird immer noch am Verhandlungstisch gemacht. Allerdings muss man sagen, dass die Politik durchaus beachtlichen Einfluss hat. Allerdings auf anderem Wege, nämlich durch Gesetze. Beispielsweise der Kündigungsschutz, der ist gesetzlich geregelt. Dieser Punkt muss in den Tarifverhandlungen nicht mehr behandelt werden. So wird Druck aus den Verhandlungen genommen.

tagesschau.de: Jetzt geht es aber nicht um Gesetze, sondern um eine Diskussion, die über die Medien ausgetragen wird.

Schneider: Durch die Debatte über höhere Lohnabschlüsse wird auch Einfluss genommen: Da werden Erwartungen auf Arbeitnehmerseite geweckt, die die Tarifverhandlungen dann zäher machen, als sie sein müssten. Denn wenn jetzt Gewerkschaftsführer zu Getriebenen werden, da die Erwartungen an der Basis so hoch sind, dann haben die natürlich eine schwierigere Verhandlungsposition. Durch die Einmischung in ein Geschäft, das sie nichts angeht, macht die Politik es den Beteiligten nicht leichter.

Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de