Interview

Interview mit HWWI-Chef Straubhaar Globalisierung ist Genuss in der Zukunft

Stand: 22.05.2007 16:05 Uhr

Bedeutet Globalisierung Stellenabbau und zügellosen Kapitalismus? HWWI-Chef Straubhaar plädiert im Gespräch mit tagesschau.de dafür, den langfristigen Nutzen zu sehen. Dem Nationalstaat in seiner heutigen Prägung prophezeit er ein kurzzeitiges Dasein - er sei zu groß für die kleinen Probleme und zu klein für die großen.

Bedeutet Globalisierung Stellenabbau und zügellosen Kapitalismus? HWWI-Chef Straubhaar plädiert im Gespräch mit tagesschau.de dafür, den langfristigen Nutzen zu sehen. Dem Nationalstaat in seiner heutigen Prägung prophezeit er ein kurzzeitiges Dasein - er sei zu groß für die kleinen Probleme und zu klein für die großen.

tagesschau.de: Ist Globalisierung eigentlich ein neues Phänomen?

Thomas Straubhaar: Es ist gar nicht so neu: So waren beispielsweise die Märkte bereits Ende des 19. Jahrhunderts vergleichsweise offen. Vor dem Crash der Weltwirtschaft in den 1920er-Jahren gab es im Wesentlichen keine nationale Wirtschaftspolitik. Es galt die Freizügigkeit der Arbeitskräfte, man konnte Kapital mitnehmen, es gab aus dem Merkantilismus stammende städtische Gewerbe und Rechtsordnungen. Die Weltwirtschaft war politisch in große Blöcke geteilt, aber nicht in wirtschaftlich großräumige Gebilde. Das meiste geschah lokal.

Die Kaufmannschaft war dagegen schon immer international agierend. Die Kaufmannsfamilien und Finanzkonglomerate spielten eine dominantere Rolle als die Nationalbanken.

tagesschau.de: Dann kam der Nationalstaat sozusagen dazwischen. Kehren wir jetzt wieder zu einer ähnlichen Konstruktion wie Ende des 19. Jahrhunderts zurück?

Straubhaar: Der Nationalstaat im heutigen Gepräge wird eine historisch vergleichsweise kurzzeitige Erscheinung sein. Er war gekoppelt an das Entstehen politischer Bewegungen, die sich aus den überdimensionierten Reichen des Mittelalters ergeben hatten. Aber eigentlich erfüllen die wenigsten Nationalstaaten heute noch von der ökonomischen Logik her eine fundamentale Rolle. Es ergibt sich eine Sandwich-Stellung für die Nationalstaaten: Für die großen Probleme sind sie zu klein, für die kleinen Probleme der einzelnen Menschen sind sie zu groß.

Zur Person

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Er leitet seit 2005 das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). Forschungsinteressen: Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Ordnungspolitik, Bildungs- und Bevölkerungsökonomie.

Zu groß für die "A-Probleme"

tagesschau.de: Welche Probleme meinen Sie?

Straubhaar: Die großen Probleme sind Umweltthemen, Migration und Bevölkerungsentwicklung. Das sind Fragen, wie der Wohlstand weltweit erworben und verteilt wird. Dies kann der Nationalstaat immer weniger selber nachhaltig regeln. Das zeigt sich in Europa deutlich: Die EU wird immer mehr zum eigentlichen Motor der Gesetzgebung.

Gleichzeitig ist der Nationalstaat zu groß für die A-Probleme: Armut, Arbeitslosigkeit, Alter, Ausländerintegration. Er wird de facto durch die Verhältnisse im Kleinen, durch regionale urbane Dezentralisierung abgelöst und im juristischen Bereich durch EU-Gesetzgebung - oder sogar durch Uno und Organisationen wie Weltbank und WTO.

tagesschau.de: Eine kulturelle Globalisierung gibt es bereits seit Langem. Handelt es sich bei der aktuellen Globalisierung um die Expansion der Marktwirtschaft gen Osten?

Straubhaar: Ja, das sehe ich ähnlich. In diesem Sinne vollzieht die Wirtschaft nur nach, was kulturelle und gesellschaftliche Prozesse schon längere Zeit vorleben. Wenn ich an die Amerikanisierung der Normen im kulturellen Bereich denke, an die Anglizierung der Sprache oder auch an die Medien, an Musik, Theater und andere Kanäle der Kultur sowie an den Sport: Da kann man wunderbar sehen, dass sich das alles schon längst nicht mehr in nationalen deutschen Dimensionen abspielt.

Man müsste untersuchen, wie weit die Wirtschaft das kulturelle Vorauslaufen benötigt, um auch gleichermaßen global zu werden. McDonalds konnte wahrscheinlich erst zu einer globalen Marke werden, nachdem die kulturelle Bereitschaft bestand, sich auf das "Abenteuer Hamburger" weltweit einzulassen. Das muss wohl Hand in Hand gehen.

"Herkömmliches wird abgewertet"

tagesschau.de: Die Globalisierung in Medien, Kultur und Sport ist also längst im Gange - und wird zumeist als Bereicherung des Lebens angesehen. Doch die wirtschaftliche Globalisierung erscheint meist als eine große Gefahr. Ist das übertrieben oder eine realistische Einschätzung?

Straubhaar: Das hängt mit den negativen Folgen und dem Strukturwandel zusammen, die die ökonomische Globalisierung mit sich bringt. Dadurch wird Altes und Herkömmliches hinterfragt und abgewertet. Man muss sich verändern, um bei der Globalisierung mikroökonomisch gut abzuschneiden. Das wirkt gegen die natürliche Trägheit und Bequemlichkeit der Menschen. Dazu kommt manchmal der Verlust von Arbeitsplätzen, es gibt möglicherweise Einbußen beim Lohn.

Die Vorteile der Globalisierung hingegen sind anonymisiert, vergleichsweise wenig spürbar, wirken sich nicht unvermittelt und heute aus, sondern langfristig. Es ist eine stetige, aber kaum wahrnehmbare Verbesserung der Lebensverhältnisse. Die Ursache der Verbesserung ist nicht klar identifizierbar, die Vorteile sind nicht gleich verteilt. Wer langfristig etwas tut, der findet kurzfristig politisch kaum Unterstützung. Und diese Asynchronität des kurzfristigen politischen Handelns und der langfristigen positiven Effekte, die führen dazu, dass man nicht zeitenkonsistent handelt, dass man heute etwas ablehnt, was uns morgen helfen würde.

"Den Zukunftsgenuss aufwerten"

tagesschau.de: Ist das nicht schlicht und ergreifend menschlich?

Straubhaar: Ja, das ist ein absolut natürliches menschliches Verhalten. Das ist eine kulturhistorische Konstanz. Der Mensch ist so geprägt, dass er den kurzfristigen Genuss, Freude, Erfolg höher bewertet als das, was ihm langfristig Vorteile verschafft: Der Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach.

Das führte dazu, dass wir über Zinsen versuchen, den Gegenwartsgenuss etwas weniger attraktiv zu machen und den Zukunftsgenuss etwas aufzuwerten. Das geht bis hin zu dem Gerede von dem Wohlergehen im Paradies. Ich bin als Schweizer sehr calvinistisch erzogen worden, und da ich mich als Mensch eigentlich drücken würde vor der Arbeit, und nicht mehr tun würde, als wirklich notwendig, wird mir versprochen, wenn ich anständig gearbeitet habe, wird mein Platz im Himmel komfortabel sein. Und das ist in den meisten anderen Religionen ähnlich.

Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de