Kernkraft-PR nach der Katastrophe? "Ich bin grandios gescheitert"
Es sollte nur ein Test sein, doch dann gerieten die Systeme außer Kontrolle. Vor 20 Jahren kam es im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl zum bislang schwersten Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie. Ganz Landstriche in der Ukraine und Weißrussland sind bis heute verseucht, viele Menschen erkrankten an den Folgen der radioaktiven Strahlung.
Klaus Kocks war damals Sprecher der deutschen Energieunternehmen und musste für die Öffentlichkeit eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Kernkraft finden. Im Gespräch mit tagesschau.de erinnert er sich an die Reaktionen auf die Katastrophe und die Debatten über den Umgang mit dem Super-GAU. Die Industrie, so Kocks, hat damals mit einer falschen Reaktion das heutige Moratorium für die Atomkraft mit herbeigeführt.
tagesschau.de: Wie haben Sie von dem Unfall in Tschernobyl erfahren?
Klaus Kocks: Ich war am 29. April 1986 in München in einer Bar und erfuhr durch einen Zeitungsverkäufer davon. Der erste Angstschauer war: Diese Scheiße werde ich erklären und möglicherweise verteidigen müssen. Was mache ich jetzt?
tagesschau.de: Ihre Aufgabe war es, auch die Atomenergie möglichst verständlich und positiv darzustellen. Das war nun praktisch unmöglich geworden.
Kocks: Wenn Sie lange in der Industrie sind, wissen Sie: Bei Vorfällen auch im eigenen Land herrscht immer sehr lange Ungewissheit darüber, was wirklich passiert ist. Man kann sich erfahrungsgemäß nicht auf das verlassen, was die unmittelbar Betroffenen sagen und muss sehr skeptisch gegenüber den industrie-eigenen Erklärungen sein. In diesem Fall war es noch viel schlimmer, weil wir keinen Zugang zu Informationen hatten. Wir wussten nicht, wie in der Sowjetunion mit dem Thema umgegangen wird. Das eigentliche Problem war also, etwas erklären zu sollen, über das man keine verlässlichen Erkenntnisse hatte.
Bilder widersprachen öffentlichen Erklärungen
tagesschau.de: Nach einer gewissen Zeit aber haben sich die Hinweise auf einen so genannten Super-Gau verdichtet. Das dürfte die Sache für Sie nicht einfacher gemacht haben.
Kocks: Ich habe bis heute kein technisches Problem mit der Kernenergie. Ich habe ein politisches Problem. Ich erinnere mich klar an eine Tagesschau aus jenen Tagen. Da sagte der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, der Vorfall sei nichts Besonderes, er sei beherrschbar und nicht übertragbar auf andere Kernkraftwerke. Es folgte ein harter Bildschnitt und man sah Schutzleute, die wie Marsmänner angezogen waren und Lastwagen abwuschen. Das sind typische Situationen, in denen die Bilder klar den Worten der Politiker widersprechen. Wir wissen, dass Bilder die Herzen der Menschen stärker ansprechen als Worte. Tschernobyl ist eine bis heute nicht verarbeitete Erfahrung. Und weil sie nicht verarbeitet wurde und sich auch die Industrie geweigert hat, sie zu verarbeiten, haben wir heute ein faktisches Moratorium für die Kernenergie in Deutschland.
Das Allensbacher Institut für Demoskopie untersuchte im Mai und Juli 1986 sowie im März 1987 die Haltung der Bevölkerung zur Atomkraft. Im Juli 1987 stellte Institutsleiterin Elisabeth Noelle-Neumann in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" fest, zwei Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung wolle die Kernenergie unbefristet oder noch einige Jahrzehnte weiter nutzen. 71 Prozent der Bevölkerung hielten die deutschen Atomkraftwerke für sicherer als das Werk von Tschernobyl. In der öffentlichen Diskussion würden die Befürworter der Kernenergie aber immer schweigsamer, so dass die Stimmung für oder gegen die Kernenergie völlig falsch eingeschätzt werde.
tagesschau.de: Industrie und Politik hätten also ganz anders reagieren und mehr auf die Ängste in der Bevölkerung eingehen müssen ?
Kocks: Ich verstehe, was damals in Tschernobyl geschehen ist. Ich weiß, dass graphit-moderierte Reaktoren in solchen Fällen pro-zyklisch reagieren. Das ist ein eigenes technisches Problem. Aber man kann den Unfall trotzdem nicht nur auf diesen Reaktor-Typ und dieses Ereignis schieben – was die Industrie gehofft hat. Das funktioniert nicht. Dieses Thema aktiviert infernalische Ängste und beschwört Weltuntergangsszenarien herauf. Das schlichte Leugnen, das Ausweichen und Wegducken hilft da nicht. Man hätte sehr weit in die politische Diskussion darüber einsteigen müssen, wer in diesem Lande bestimmt, welche Technik man benutzt und welche nicht.
"Ich bin grandios gescheitert"
tagesschau.de: Wie hat man denn intern auf Ihre Position, eine breite Debatte über die Kernenergie anzustoßen, reagiert?
Kocks: Im ersten Schrecken war man geneigt, ihr zu folgen. Aber am Ende wollte man mit diesem Blödsinn nicht mehr belästigt werden. Wir hatten ja „überlebt“. Ich bin grandios gescheitert – aber gescheitert. Mich hat diese Erfahrung geprägt. Mein Glaube, dass solche Fragen nur im breiten Konsens zu lösen sind, hat sich gestärkt und ich sehe bei der Gentechnik wieder dieselben Prozesse.
tagesschau.de: Was hat damals den Meinungsumschwung bei der Industrie ausgelöst?
Kocks: Nach etwa einem halben Jahr hat das Meinungsforschungsinstitut Allensbach vom Bodensee aus nachgewiesen, dass die Welt noch in Ordnung ist und eigentlich nichts passiert ist. Daraufhin ist man wieder zur alten Tagesordnung übergegangen. Ich glaube deshalb, dass die heutige kritische Wahrnehmung der Kernenergie nicht das Verdienst der Grünen, sondern das Verschulden der Industrie ist.
Klaus Kocks war von 1985 bis 1987 Geschäftsführer der Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft in Frankfurt. Später war er u.a. als Mitglied des VW-Vorstands zuständig für die Unternehmenskommunikation. Heute leitet Kocks die Sozietät für Kommunikationsberatung CATO.
tagesschau.de: Wieso war die Industrie nicht bereit, sich auf eine Diskussion einzulassen?
Kocks: Die Komplexität einer solchen Technik zwingt zur Demokratie. Bis das ein Ingenieur verstanden hat, vergeht eine Weile. Man muss sich der Debatte stellen, muss raus aus den Elfenbeintürmen. Techniker schauen immer auf die fachliche Elite und sagen: Wer nicht Diplom-Physiker ist, soll die Schnauze halten. Das ist aber nicht das Wesen des Prozesses. Nur wenn ich in der Lage bin, plausibel und verantwortlich zu vermitteln, was ich mache, bekomme ich einen politischen Konsens. Nur mit einem politischen Konsens kann ich eine so folgenreiche Technik betreiben.
tagesschau.de: Welche Konsequenzen haben Sie aus Ihrem Scheitern gezogen?
Kocks: Ich weiß seither, dass Meinungsforschung ein hocheinflussreiches und hochgefährliches Instrument ist. Sie können es benutzen, um Menschen aufzuwecken – und um sie einzuschläfern. Tschernobyl ist aus den Köpfen verschwunden. Wir sind vergessliche Wesen und können ja nicht jeden Morgen mit dem Schlimmsten rechnen. Aber wir müssen viel bewusster als in der Vergangenheit Risikoentscheidungen treffen, und darüber müssen wir debattieren. Wir müssen entscheiden, was wir wollen.
"Das Einlullen funktioniert nicht mehr"
tagesschau.de: Kernenergie bleibt immer mit einem Risiko behaftet.
Kocks: Den deutschen Stromversorgern ist im Grunde egal, womit sie den Strom erzeugen. Sie sind nicht von der Atomenergie abhängig. Das unterscheidet uns von anderen Ländern, in denen es auch ein militärisches Interesse an der Kernenergie gibt. Schauen Sie sich Frankreich an. Deswegen eignet sich die Frage, mit welchen Primärenergien wir Strom erzeugen wollen, geradezu beispielhaft für eine politische Debatte - wenn die Menschen bereit sind, die Folgekosten zu tragen. In der Gesundheitspolitik wird nun erstmals eingeräumt, dass es für uns nicht mehr billiger werden wird. Man atmet regelrecht auf, wenn jemand mal den Mut hat, die Wahrheit zu sagen. Ich glaube: Dieses Einlullen durch Technokratie dieses ‚Lass die Fachleute mal machen’ läuft nicht mehr, und das finde ich in Ordnung. Eine aufgeklärte Gesellschaft muss das austragen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de