Engpässe in der Krise Leere Regale, geschlossene Kneipen
Monatelang auf den Handwerker warten, vor leeren Regalen oder geschlossenen Restaurants stehen: Diese Erfahrung machen viele Deutsche in der Krise zum ersten Mal - zumindest im Westen.
Es fehlt an Material, es fehlt an Personal. Ein Szenario, das Gregor Gysi noch aus Zeiten der DDR kennt. Heute auf ein Ersatzteil neun Monate warten zu müssen, das erinnert den Bundestagsabgeordneten der Linken an alte Zeiten: "Lange Wartezeiten bei der Autoreparatur, das kann doch nicht wahr sein. Das kenne ich ja wirklich von früher." Im November 1976 berichtete das DDR-Fernsehen darüber, dass nur 76 Prozent aller Kraftfahrzeug-Reparaturen in vertretbaren Wartezeiten ausgeführt werden konnten.
In einer Marktwirtschaft war das bislang undenkbar. In der Autobranche gab es viele Jahre lang keinerlei Materialmangel. Inzwischen klagen 74 Prozent der Unternehmen in der Automobilbranche über Engpässe. Anders als Gregor Gysi erleben viele Menschen die Folgen von Mangel im Alltag zum ersten Mal.
"Wirklich etwas Neues"
Schließlich habe es das nicht einmal in der Finanzkrise von 2008/2009 gegeben, so der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Einen Mangel zu haben, nicht zu wissen, wie man Produkte produziert oder wo man etwas Gewohntes herbekommt: Das ist wirklich etwas Neues, weil wir das in den letzten Jahrzehnte eigentlich nicht kannten. Die globale Finanzkrise 2008/2009 hatte sich eher auf Banken konzentriert."
Die neue - und für Ex-DDR-Bürger erneute - Erfahrung des Mangels mache etwas mit den Menschen, so Gysi. Schließlich treffe sie die gesamte Gesellschaft: "Da ja auch der Reiche davon betroffen ist, wenn es etwas nicht mehr gibt, entsteht wieder so ein komisches Gleichberechtigungsdenken."
Diversifizierung gegen Abhängigkeiten
Zufrieden vereint im Mangel? Das dürfe niemals das Ziel von Unternehmen in der Marktwirtschaft sein, so die einhellige Meinung. Also müssen die Firmen nach Jahrzehnten der Kostenoptimierung mühsam umdenken: "Sie dürfen nicht alles auf ein Pferd setzen. Sie müssen also mehrere Zulieferer haben, nicht mehr nur einen. Und vielleicht auch nicht nur in China, sondern in Brasilien, den USA und eben auch in China", sagt Fratzscher. Höhere Kosten von Lieferanten müsse man eben hinnehmen, solange neue Lieferanten die eigene Lieferfähigkeit verbessern.
Zu wenig Personal in vielen Branchen
Neben den Materialengpässen macht auch der Personalmangel vielen Unternehmen zu schaffen: Das bekommt auch das Traditionshaus Rössle in Weinstadt bei Stuttgart zu spüren. Chefin Beate Linsenmaier fehlen Mitarbeiter, 50.000 Stellen sind unbesetzt. Die Folge: Hotel und Restaurant bleiben im Sommer zum ersten Mal zwei Wochen dicht. Zudem ist das Gasthaus nun an jedem Sonntagabend geschlossen.
Linsenmaier bedauert die Entwicklung sehr: "Wir waren Sonntagabend immer gut besucht, jetzt können wir das einfach nicht stemmen. Es ist keiner da, und ich kann es alleine nicht machen. Es ist bitter, auch für die Gäste. Aber ich kann es nicht ändern."
Die Herausforderung für Unternehmen dürfte in der nächsten Zeit noch größer werden, erklärt Fratzscher: "Wenn weniger Arbeitskräfte da sind, stehen die Unternehmen im stärkeren Wettbewerb um die Beschäftigten. Das wird dazu führen, dass die Löhne der Beschäftigten stärker steigen und damit auch die Preise der Produkte."
Elf Wochen Wartezeit beim Handwerker
Personal- und Materialmangel: Gleich beides gehört zum Handwerker-Alltag in Wiesbaden bei Baumstark Haustechnik, einem Betrieb mit 80 Beschäftigten. Ein halbes Dutzend Fachleute will Firmenchef Theo Baumstark gerne einstellen - doch bislang bleibt seine Suche erfolglos. "Ich würde jemanden einstellen, der bis zu 60.000 Euro im Jahr bekommt für Kundendiensttätigkeiten. Aber den bekommen Sie auch für dieses Geld schlecht. Wir haben eine Vier-Tage-Woche eingeführt. Auch das führt nicht dazu, dass jetzt ein großer Ansturm entsteht", so Baumstark.
"Nach wie vor das richtige Modell"
Überall werden so die Wartezeiten länger und länger. Bis der Handwerker klingelt, haben die Kunden nach der Bestellung im vergangenen Jahr rund elf Wochen warten müssen. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es nur sieben Wochen. Noch dramatischer ist die Lage für diejenigen, die ihr Dach decken oder neu bauen wollen: 16 Wochen Wartezeit auf die Leute vom Bau. Vor zehn Jahren waren es nur rund neun Wochen.
Es ist der Beginn neuer Zeiten. Doch trotz der ungewohnten Schwäche der Marktwirtschaft, trotz aller Fehler sind sich Wirtschaft und Politik einig: In der Planwirtschaft wäre alles noch viel schlimmer. "Die Marktwirtschaft und die soziale Marktwirtschaft sind nach wie vor das richtige Modell. Wir müssen sie nur reformieren und zukunftsfähig machen, damit wir in der Zukunft weniger Mangel, weniger Probleme, weniger Wohlstandsverlust durch diese Krisen haben", so Fratzscher.