Hintergrund

Intransparente Medikamenten-Produktion Die Täuschung in der Packungsbeilage

Stand: 06.05.2017 02:44 Uhr

Woher kommen unsere Medikamente? In der Packungsbeilage steht oft ein deutscher "Hersteller" - dabei werden die Mittel oft tatsächlich in Indien und China hergestellt. Ein intransparentes System mit Nebenwirkungen.

Das Rätsel: Woher kommen unsere Medikamente?

"Wenn ich mir meine Tablettenpackung angucke hätte ich mir nie vorstellen können, unter welchen Bedingungen das produziert wird", sagt Christoph Lübbert. Der Infektionsmediziner des Universitätsklinikums Leipzig ist mit Reportern des NDR in die indische Millionen-Metropole Hyderabad gereist - dorthin, woher ein großer Teil aller Medikamente für deutsche Patienten stammt.

Christoph Lübbert

Christoph Lübbert ist mit dem Recherche-Team des NDR nach Indien gereist.

Hier werden die Inhalte vieler Tabletten, Infusionen und Spritzen hergestellt: Antibiotika, Magen- und Schmerzmittel, Herzmedikamente und etliche weitere Stoffe. Aber das weiß kaum jemand. Auch Ärzte und Apotheker können nicht nachvollziehen, woher die Inhaltsstoffe der Tabletten stammen, die sie verschreiben oder herausgeben. In der Packungsbeilage steht es nicht. Dort wird meist ein deutsches oder europäisches Unternehmen als Hersteller angegeben.

Die Hauptstadt der Arzneimittel

Tatsächlich kommt der Inhalt aber oft ganz woanders her, etwa aus Hyderabad. In der Stadt im Süden Indiens haben sich Hunderte Pharmafirmen angesiedelt. Viele ihrer Fabriken sind schon Jahrzehnte alt und einigen sieht man das auch an. In den Industriegebieten wabert Gestank nach Schwefel und anderen Chemikalien. In Kanälen, Gräben und kleinen Becken haben sich braune, grünliche und tiefschwarze Flüssigkeiten angesammelt. An fast jeder Ecke stehen rostige Tanklaster, die entweder frisches Wasser zu den Fabriken oder Abwasser von dort weg transportieren. Und zwischendurch treiben Hirten Schafe oder Rinder über die staubigen, holprigen Pisten.

In einem effekthascherischen Werbevideo präsentiert sich Hyderabad ganz anders: als moderne "Hauptstadt der Arzneimittel" lockt sie mit dem Versprechen "Minimale Kontrolle, Maximale Förderung".

Fatale Nebenwirkung der Verlagerung

Wozu solch "minimale Kontrolle" führen kann, zeigten jüngst Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung". Dabei wurden gemeinsam mit Christoph Lübbert und anderen Wissenschaftlern Wasserproben rund um die Fabriken in Hyderabad genommen und auf Rückstände von Antibiotika und Pilzmitteln sowie auf das Vorkommen von gefährlichen, multi-resistenten Erregern untersucht. Die Ergebnisse seien "beängstigend", sagt Lübbert.

Der Nürnberger Pharmakologe Fritz Sörgel, der die Proben aus der Umwelt auf Medikamente untersuchte, musste die aus Hyderabad mitgebrachte Brühe oft erst extrem verdünnen, um seine feinen Messinstrumente nicht zu überfordern. Eine Probe aus einem Graben mitten im Industriegebiet enthielt 237 Milligramm pro Liter des Pilzmedikaments Fluconazol. Das ist eine Konzentration, die 20 mal so hoch war wie schwerkranke Patienten im Blut höchstens haben sollen. Und es ist der höchste Wert, der jemals weltweit bei einem Medikament in der Umwelt gemessen wurde. Auch in anderen Fällen seien Konzentrationen festgestellt worden, die man sonst nur im Labor habe, wenn man etwas künstlich erzeugen wolle, sagt Sörgel. "Dass so etwas in der freien Natur vorkommt, ist wirklich schockierend."

Das sind Bedingungen, die sich Lübbert nie hat vorstellen können: Eine extrem verdreckte, verseuchte Umgebung, aus der die ultrareinen Arzneimittel stammen, die er tagtäglich in der Klinik anwendet.

Intransparentes System

Wie kann es sein, dass er und andere Mediziner sowie viele Patienten nicht wissen, wo die Mittel hergestellt werden? Der Grund dafür liegt im globalen Wettbewerb und einem intransparenten System.

Die Pharma-Unternehmen in Deutschland müssen zwar in der Packungsbeilage einen "Hersteller" angeben. Allerdings muss nur das Unternehmen genannt werden, in dem der letzte Produktionsschritt vollzogen wird - und der ist die Endkontrolle des fertigen Medikaments.

Das bedeutet: Oft werden die Wirkstoffe irgendwo anders auf der Welt hergestellt und zu Tabletten oder Lösungen verarbeitet. Und da die Medikamente auch nicht nur aus den reinen Wirkstoffen bestehen, sondern immer auch zusätzliche Stoffe verarbeitet werden, stammen die Inhalte einer Tablette teils aus verschiedensten Werken und Ländern. Für Patienten, Ärzte oder Apotheker ist eine Information darüber allerdings nirgendwo zu finden oder nachzulesen.

Gnadenloser Wettbewerb

Der Inhalt vieler Medikamente in deutschen Apotheken kommt mittlerweile aus Indien und China und oft sogar aus ein und demselben Werk. Die asiatischen Fabriken sind quasi die Zulieferer der großen, bekannten Unternehmen wie Hexal, ratiopharm oder Stada. Sie verkaufen unter ihrem jeweiligen Markennamen Medikamente, die oft denselben Wirkstoff aus derselben Fabrik enthalten. Bei Antibiotika etwa werden in China oft die Grundsubstanzen hergestellt, in Indien weiterverarbeitet und dann in die gesamte Welt exportiert. In Deutschland werden die Mittel dann am Schluss kontrolliert.

Der entscheidende Grund für dieses Vorgehen ist der Preis. Der globale Verdrängungswettbewerb ist gnadenlos. Wer am billigsten anbietet, gewinnt. Alle anderen gehen leer aus - etwa beim Abschluss von Verträgen mit Kliniken oder Krankenkassen. Denn diese sind dazu angehalten, auf die "Wirtschaftlichkeit" zu achten, also günstig einzukaufen. Und hier haben Länder wie Indien und China eindeutige Vorteile.

Früher galt Deutschland als "Apotheke der Welt". Das ist längst vorbei. Nach Schätzungen kommen beispielsweise mittlerweile mehr als 90 Prozent aller weltweit hergestellten Antibiotika aus Indien und China. Ende 2016 stellte eines der letzten großen Antibiotika-Werke in der westlichen Hemisphäre die Produktion ein - eine Fabrik in Frankfurt-Hoechst.

Vorteile für Indien und China

Niedrigere Lohnkosten und wohl auch die geringeren Sozial- und Umweltstandards spielen bei der Verlagerung eine Rolle. Die Länder in Asien haben zudem noch einen weiteren, entscheidenden Vorteil: das Patentrecht.

Der Hintergrund: Der Pharma-Markt ist grundsätzlich zweigeteilt. Auf der einen Seite gibt es die Original-Präparate. Das sind Medikamente, die neu auf den Markt kommen und somit Patentschutz genießen. Die Hersteller können teils exorbitant hohe Preise für diese Mittel nehmen. Ganz anders sieht es aus, sobald das Patent abgelaufen ist. Dann dürfen Mitbewerber Konkurrenz-Präparate auf den Markt bringen, die den gleichen Wirkstoff enthalten. Die Folge: Der Preis für die Produkte stürzt. Beispiel Antibiotika: Neue, patentgeschützte Mittel kosten pro Tagesdosis bis zu 1.000 Euro. Das alte und meist eingesetzte Antibiotikum Amoxicillin dagegen weniger als zehn Cent.

Solange der Schutz für ein Medikament gilt, darf es in Europa grundsätzlich nicht von Konkurrenten hergestellt werden. Anders etwa in Indien: Hier kann ein Nachahmer-Präparat schon vorproduziert werden. Sobald der Patentschutz ausläuft, kann dann das billigere Generikum gleich vermarktet werden. Auch dank dieses Vorteils ist Indien zu einem der größten Hersteller von Nachahmer-Präparaten geworden.

Zudem verschafft die schiere Größe Vorteile. Je mehr eine Fabrik produziert, desto billiger kann sie das Produkt anbieten. In China sind deshalb seit den 1980er-Jahren, auch dank massiver staatlicher Unterstützung, gigantische Fabriken entstanden. So steht etwa ein Werk in der Inneren Mongolei, das so groß ist, dass es ein eigenes Kohlekraftwerk betreibt. Dort wird vor allem ein wichtiges Ausgangsmaterial für viele Antibiotika produziert - und zwar deutlich mehr, als alle Menschen in Europa zusammen verbrauchen.

Forderung nach mehr Transparenz und Kontrollen

Die Folgen der Verlagerung und des Konzentrationsprozesses auf immer größere, immer weniger Hersteller kann jedoch auch fatale Nebenwirkungen haben. Derzeit besteht beispielsweise weltweit ein Lieferengpass bei einem sehr wichtigen Antibiotikum. Der Grund dafür: Im vergangenen Herbst explodierte ist eine Fabrik in China. Das Werk war eines von offenbar nur zwei großen, die weltweit dieses Mittel produzieren. Dieser Fall verdeutlicht auch, wie abhängig mittlerweile die gesamte Welt von teils nur sehr wenigen Unternehmen ist, von denen offenbar einige auch unter fragwürdigen Bedingungen produzieren. Experten fordern deshalb dringend schärfere Kontrollen und vor allem auch mehr Transparenz.

Die Doku "Der unsichtbare Feind"

Die komplette Dokumentation "Der unsichtbare Feind - Tödliche Supererreger aus Pharmafabriken" sehen Sie am 8. Mai 2017 um 22.45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 04. Mai 2017 um 17:00 Uhr.