Interview mit Nachhaltigkeitsforscher "Der Wohlstand geht trotz Wachstum zurück"
Der Nachhaltigkeitsforscher Roland Zieschank fordert im Interview mit tagesschau.de ein Umdenken: "Wir müssen weg von dem Wachstumsparadigma."
tagesschau.de: Warum muss die Wirtschaft eigentlich ständig wachsen?
Roland Zieschank: Weil unsere Volkwirtschaft davon lebt, dass permanent Fortschritte in der Produktivität erzielt werden. Das heißt: Wenn Unternehmen besser, schneller und effizienter wirtschaften, benötigen sie weniger Arbeitskräfte. Damit diese Menschen wieder an anderer Stelle einen Job finden, muss die Wirtschaft nach der herkömmlichen Theorie mindestens zwei Prozent pro Jahr wachsen. Aber: In einer Volkswirtschaft gibt es noch andere Ziele als pures Wachstum. Wir müssen wegkommen von diesem Wachstumsparadigma. Das Bruttoinlandsprodukt, das nur Dienstleistungen und Güter in die Berechungen mit aufnimmt, sollte deshalb nicht das alleinige Maß für politische und wirtschaftliche Entscheidungen sein.
Der Verwaltungswissenschaftler Roland Zieschank arbeitet seit 1990 an der Forschungsstelle für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin. Zu seinem Schwerpunkt gehört die Entwicklung nationaler Umweltindikatoren sowie Nachhaltigkeitsstrategien. Zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Hans Diefenbacher entwarf er den Nationalen Wohlfahrtsindex für Deutschland.
tagesschau.de: Warum ist das Bruttoinlandsprodukt dennoch die "heilige Kuh" der Weltwirtschaft?
Zieschank: Das hat historische Gründe. Schon während des Zweiten Weltkriegs brauchten die Volkswirtschaften eine Kennziffer, um ihre Leistungskraft zu messen. Wie viele Panzer, wie viele Flugzeuge, wie viele Schiffe produziert werden - diese Zahlen gaben die Stärke der Kriegswirtschaften an. Das BIP ist später während des Kalten Krieges zu einem Instrument des Systemwettkampfes zwischen West und Ost geworden, um die Stärke der westlichen Volkswirtschaften hervorzuheben.
tagesschau.de: Das heißt: Sie halten das BIP für überholt?
Zieschank: Nein. Das BIP hat schon seine Existenzberechtigung, weil es einen Vergleich über verschiedene Zeitperioden und zwischen verschiedenen Ländern ermöglicht. Das Problem ist nicht die Ziffer, sondern ihre Interpretation.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der wichtigste Gradmesser für die Leistung einer Volkswirtschaft. Es umfasst den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft erwirtschaftet werden.
Das BIP der Bundesrepublik berücksichtigt auch die Leistungen der Ausländer, die hierzulande arbeiten. Die Leistungen der Inländer, die im Ausland arbeiten, werden nicht erfasst.
tagesschau.de: Wie meinen Sie das?
Zieschank: Viele glauben immer noch, dass es mit steigendem BIP automatisch zu mehr Wohlstand kommt. Aber das muss nicht der Fall sein. Denken Sie an die Diskussion um Bonus-Zahlungen für Manager oder an den Verzehr von Hamburgern. Je mehr Burger die Menschen essen, je mehr Boni verteilt werden, umso mehr wächst das BIP. Aber: Die gesellschaftlichen Nachteile, die sich daraus ergeben - sei es für den allgemeinen Wohlstand oder für die Gesundheit des Einzelnen - werden nicht abgezogen.
Qualmende Schlote als Symbol einer wachsenden Wirtschaft - aber die entstehenden Umweltschäden fließen in die klassische volkswirtschaftliche Rechnung nicht mit ein.
Ein anderes Beispiel: Der Wirbelsturm "Katrina" in den USA vor vier Jahren führte dazu, dass das BIP in den USA etwa um ein Viertel Prozent stieg, weil die Schäden in New Orleans behoben werden mussten, was wiederum die Wirtschaft ankurbelte. Von einer realen Wohlfahrtssteigerung lässt sich da aber bestimmt nicht reden.
tagesschau.de: Um solche Verzerrungen zu vermeiden, haben Sie zusammen mit dem Heidelberger Wirtschaftswissenschaftler Hans Diefenbacher einen Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) entwickelt. Wie messen Sie damit Wohlstand?
Zieschank: Uns geht es darum, Leistungen, die in amtlichen Statistiken nicht auftauchen, in die Berechnung mit einzubeziehen. Dazu zählt der Wert der Hausarbeit oder auch der Wert ehrenamtlicher Arbeit. Gleichzeitig ziehen wir die Kosten, die etwa durch verschmutzte Gewässer oder durch den Ausstoß von Kohlendioxid entstehen, in unserem Modell ab.
Der Nationale Wohlfahrtsindex beruht auf der Annahme, dass die Kosten von Umweltzerstörungen oder negative gesellschaftliche Folgen wirtschaftlichen Handelns im Bruttoinlandsprodukt nicht berücksichtigt werden. Das BIP widerspricht laut der Studie "Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie - Vorschlag für einen nationalen Wohlfahrtsindex" zahlreichen Nachhaltigkeitszielen. Dies betrifft beispielsweise den Konsum von Alkohol. Der NWI berücksichtigt zusätzliche Faktoren zur Messung des Wohlstandes. Dazu zählen beispielsweise Kosten durch Verkehrsunfälle, der Wert von ehrenamtlicher Arbeit, Schäden durch Boden- und Luftverschmutzung sowie Einschränkungen, die durch Lärm entstehen. Der Verwaltungswissenschaftler Roland Zieschank von der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin und der Ökonom Hans Diefenbacher von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg erstellten die Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes und des Bundesumweltministeriums.
tagesschau.de: Und wie sehen nach dem NWI die Werte für Deutschland aus?
Zieschank: Seit 1996 haben wir einen gegenläufigen Trend zum Bruttoinlandsprodukt festgestellt: Während das BIP langsam steigt, nimmt der NWI tendenziell ab. Daraus lässt sich schließen: Die Wohlfahrt in Deutschland geht, verursacht durch Umweltschäden oder soziale Ungleichheit, tendenziell zurück.
tagesschau.de: Kritiker halten alternativen Modellen zur Berechnung des Wohlstandes vor, willkürlich Daten zu einem Index zu vermengen.
Zieschank: Es ist nicht so, dass wir im stillen Kämmerlein sitzen und überlegen, wie wir etwa Umweltschäden im Wohlfahrtsindex einkalkulieren. Wir beziehen uns da auf verlässliche ökologische Daten. Dass es sich hier um eine Bewertung gesellschaftlicher Faktoren handelt, während beim BIP nur reine ökonomische Daten eingehen, steht außer Frage. Aber auch die BIP-Statistik beruht im Prinzip auf Vereinbarungen, auf die man sich verständigt hat. Nichts anderes machen wir. Und: Wir haben eine sehr große Transparenz und nutzen die besten wissenschaftlichen Kenntnisse, die uns zur Verfügung stehen.
tagesschau.de: Glauben Sie, dass dieser Index irgendwann auf internationaler Ebene als Vergleichswert herangezogen wird?
Zieschank: International wäre es nicht sinnvoll, aber innerhalb Europas schon. Denn hier haben wir vergleichbare Ausgangsbedingungen, was etwa die Einkommensverteilungen angeht. Auf EU-Ebene gibt es auch Diskussionen, die sich darauf konzentrieren, wie man wegkommt vom klassischen BIP zu einem qualitativen Wirtschaftswachstum.
Das Interview führte Jörn Unsöld für tagesschau.de.