Experte zum Fachkräfte-Streit Keine "Fast-Food-Weiterbildung"
Wie soll man dem Fachkräftemangel in Deutschland begegnen? Wirtschaftsminister Brüderle will verstärkt Fachkräfte aus dem Ausland holen, Arbeitsagentur-Chef Weise das Potenzial hierzulande voll ausschöpfen. Beide haben unrecht, sagt Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Von allen Seiten heißt es, dass in Deutschland Fachkräfte knapp seien. Was ist aus Ihrer Sicht da dran?
Gerhard Bosch: Beim vergangenen Aufschwung haben wir gesehen, dass Fachkräfte fehlten. Es wurden händeringend Facharbeiter im gewerblichen Bereich oder auch Ingenieure gesucht. Und die Wachstumsmöglichkeiten waren dadurch eindeutig eingeschränkt. Zum Teil wurde der Mangel allerdings durch Überstunden kompensiert, was auch ganz gut funktioniert hat. In der Finanzkrise wurden die Arbeitszeitkonten wieder geleert und man konnte durch Kurzarbeit die Fachkräfte halten.
tagesschau.de: Woran liegt es denn, dass es zu wenige Fachkräfte gibt?
Bosch: Der Grund für die wenigen Fachkräfte ist zum einen, dass deutsche Unternehmen international auf hochwertige Güter spezialisiert sind. Somit ist die deutsche Industrie eine Fachkräfte-Industrie und braucht hochqualifiziertes Personal. Zum anderen lassen wir Teile unserer Gesellschaft links liegen. Das sind all die Menschen in Deutschland, die von der Bildungsexpansion ausgeschlossen werden, wie zum Beispiel junge Ausländer oder auch junge Männer allgemein.
tagesschau.de: Bundeswirtschaftsminister Brüderle möchte vermehrt ausländische Fachkräfte nach Deutschland holen - und das auch mithilfe finanzieller Anreize. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, will, dass das Potenzial auf dem hiesigen Arbeitsmarkt erst einmal ausgeschöpft wird, bevor Ausländer nach Deutschland geholt werden. Wer hat aus Ihrer Sicht recht?
Bosch: Beide haben unrecht. Was mir an dem Brüderle-Vorschlag nicht gefällt ist, dass der Fachkräftemangel ausschließlich mit Zuwanderung kompensiert werden soll. Natürlich ist die Zuwanderung ein Mittel, um das Problem zu lösen. Sie ist aber kein Alleinheilmittel. Wenn man die eigenen Leute vernachlässigt, dann provoziert man natürlich negative Reaktionen und Ängste.
Aber auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit argumentiert am Gesamtproblem vorbei. Wir leben in einer globalisierten Wirtschaft, und da brauchen wir Zuwanderung. Und wir brauchen eine größere Offenheit für andere Länder und andere Ideen. Die Bundesagentur sollte lieber wieder Umschulungen einführen, damit Arbeitslose einen Berufsabschluss erwerben können. Es müsste eine große Bildungsoffensive starten, um nachträgliche Bildungsabschlüsse für diese verlorene Generation bereitzustellen. Die Bundesagentur bietet derzeit stattdessen Trainingsmaßnahmen nach dem "Fast-Food-Prinzip" an.
tagesschau.de: Was meinen Sie damit?
Bosch: Damit meine ich zum Beispiel Kurse, die das Bewerbungsverhalten oder soziales Verhalten trainieren. Die Bundesagentur für Arbeit bietet kaum noch abschlussbezogene Weiterbildung an. Wir müssen einen gesunden Mix aus den beiden genannten Positionen finden.
Bafög auch für Erwachsene über 35
tagesschau.de: Wie sähe dieser Mix im Einzelnen aus?
Bosch: Der Mix besteht aus einem großen Programm mit vier Komponenten. Die erste Komponente umfasst mehr Offenheit für das Ausland. Aber nicht, wie gefordert, ausschließlich über Zuwanderung, sondern zum Beispiel über eine Greencard-Regelungen. Auf medienwirksamen Unsinn wie Begrüßungsgeld sollte man dabei verzichten. Eine Senkung der Lohngrenze auf ungefähr 50.000 Euro wäre allerdings vernünftig und würde gleichzeitig eine Unterbietung deutscher Lohnstandards verhindern.
Zweitens: Die Bundesagentur für Arbeit dürfte keine "Fast-Food-Qualifizierung" mehr betreiben, sondern müsste eine abschlussbezogene und facharbeiterbezogene Weiterbildung anstreben. Wir sprechen da von Größenordnungen von etwa 200.000 Fachkräften pro Jahr. Das war die Größenordnung um die Jahrtausendwende vor den Hartz-Reformen. Hiermit sollen vor allem die 1,5 Millionen jungen Menschen zwischen 20 und 29 erreicht werden, die keinen Berufsabschluss haben.
tagesschau.de: Welche Komponenten gehören noch dazu?
Bosch: Eine weitere Maßnahme wäre die Einführung von Erwachsenen-Bafög. Ich war Mitglied einer Kommission der Bundesregierung zur Finanzierung lebenslangen Lernens. Dort haben wir im Jahr 2003 unseren Abschlussbericht vorgelegt, in denen wir ein Erwachsenen-Bafög nach schwedischem Vorbild vorgeschlagen haben. So würde es auch für Erwachsene leichter werden, ihren Bildungsabschluss mithilfe eines Stipendiums nachträglich zu erlangen. Dafür müsste die Politik natürlich die derzeitige Bafög-Altersgrenze von 35 Jahren nach oben setzen.
Nicht zuletzt müssen die deutschen Unternehmen ihre Personalpolitik verändern. Sie müssen offen sein für die Einstellung von Ausländern. Ein erster erkennbarer Schritt hierfür ist zum Beispiel, dass bei manchen DAX-Unternehmen die Namen der Bewerber nicht mehr auf dem Lebenslauf erscheinen.
Telekom macht es richtig
tagesschau.de: Was halten sie dann von der Reaktion der Telekom auf den Fachkräftemangel? Der Konzern plant, über die nächsten vier Jahre 270 junge Geringqualifizierte einzustellen und einem Teil dieser Jugendlichen eine Chance auf einen Ausbildungsplatz zu gewähren.
Bosch: Das finde ich sehr gut. Genau diese Offenheit brauchen wir. Und diese Offenheit sollte es auch in anderen Unternehmen geben, denn wir müssen unbedingt die Geringqualifizierten in den Arbeitsmarkt integrieren. Derzeit haben wir vielerorts eine Personalpolitik, die nur auf die Jungen setzt. Dabei werden nur die Erfolgreichen belohnt, die ohne Umwege erfolgreich geworden sind. Ein Umweg wird nicht mehr erlaubt. Auch wird nicht berücksichtigt, dass Menschen verschiedene Entwicklungen haben. Diese Leute brauchen eine zweite Chance.
tagesschau.de: Auf der einen Seite wird dem deutschen Arbeitsmarkt ein Fachkräftemangel attestiert. Gleichzeitig gehen jährlich Zehntausende junge Menschen bei der Lehrstellensuche leer aus. Sehen Sie hier einen Widerspruch?
Bosch: Das ist der größte Widerspruch überhaupt. In einzelnen Regionen Deutschlands haben wir noch starke Jahrgänge von Jugendlichen, so dass manche Unternehmen den Mangel noch nicht überall spüren. Das Defizit an Fachkräften ist zwar akademisch diagnostiziert. Die Unternehmen bemerken dieses Problem aber oft nur in Krisen. Aber dann ist es zu spät. Das Niveau der jetzigen Diskussion kann da nur pessimistisch stimmen.
Das Interview führte Lazar Backovic für tagesschau.de