Nationaler IT-Gipfel Übernehmen die Maschinen die Macht?
Der IT-Gipfel diskutiert über die Industrie 4.0, bei der nicht mehr Menschen, sondern Werkstücke miteinander kommunizieren. Überflüssig wird der Mensch dadurch zwar nicht, sagt Wissenschaftsphilosoph Mainzer gegenüber tagesschau.de. Doch die Anforderungen wachsen rasant.
tagesschau.de: Was bedeutet Industrie 4.0?
Klaus Mainzer: Bei Industrie 4.0 sprechen wir von einem Internet der Dinge. Das Internet, das wir alle kennen und nutzen, ist ein Computernetz, bei dem Personen miteinander kommunizieren. Bei der Industrie 4.0 kommunizieren aber die Dinge miteinander, beispielsweise über RFID-Chips und Sensoren. Das Werkstück kommuniziert beispielsweise mit der Werkbank, teilt über einen Chip seinen Bearbeitungszustand mit, und dann wird automatisch das passende Roboterfahrzeug heranbeordert.
Die Produktion läuft also nicht mehr nach einem vorprogrammierten Plan und wird bei Überlastung einfach gestoppt, sondern der Arbeitsprozess wird von den Geräten selbst weitgehend autonom gesteuert. Die Automobilindustrie beispielsweise arbeitet heute schon so.
Der Begriff knüpft an die historische Entwicklung an: Industrie 1.0 meint die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert, mit der Erfindung der Dampfmaschine. Industrie 2.0 beginnt am Anfang des 20. Jahrhunderts, mit Henry Ford, der Fließbandarbeit und der Massenproduktion. Industrie 3.0 am Ende des 20. Jahrhunderts meint die Einführung der Industrieroboter und die Unterstützung der Arbeiter am Fließband.
Mit der Industrie 4.0 werden nun nicht mehr Werkstücke massenhaft reproduziert und auf Vorrat in eine Lagerhalle gestellt, sondern man produziert nur noch on demand - und zwar gezielt nach Kundengeschmack. Das heißt, in Zukunft wird der Maßanzug zum Standard, nicht mehr das Massenfabrikat.
"Roboter werden noch stärker autonom arbeiten"
tagesschau.de: Der Arbeitsprozess wird von den Geräten autonom gesteuert? Das hört sich ein bisschen nach Science Fiction an, wo die Roboter die Macht übernehmen.
Mainzer: Das sollten wir natürlich verhindern. Momentan beschränkt sich die Autonomie des Systems und der Geräte noch weitgehend auf motorische Abläufe. Aber mit dem Fortschritt in der Robotik, der Automatik und der künstlichen Intelligenz werden die Systeme in Zukunft immer stärker autonom arbeiten. Da kann man sich schon Szenarien vorstellen, bei denen später Systeme selbst Entscheidungen übernehmen.
Ein Beispiel, wo das jetzt schon der Fall ist, ist der Hochfrequenzhandel bei Banken. Computerprogramme können ja sehr viel schneller als Menschen bestimmte Veränderungen an den Börsen erkennen und reagieren auf diese dann automatisch. Ähnliches ist für die Zukunft auch in industriellen Abläufen denkbar.
tagesschau.de: Wie wird sich unsere Arbeitswelt durch diese technischen Entwicklungen verändern? Welche Tätigkeiten bleiben da noch den Menschen vorbehalten?
Mainzer: Es wird auf absehbare Zeit weiterhin so sein, dass Menschen die großen Entscheidungen treffen und Abläufe insgesamt überwachen müssen. Das Beispiel Hochfrequenzhandel hat ja gezeigt, wo es hinläuft, wenn Systeme allein Entscheidungen treffen. Hier werden die Menschen weiterhin mit ihrer Urteilskraft gebraucht werden.
"Menschen werden immerzu in Fortbildungen sein"
tagesschau.de: Werden nicht dennoch zahlreiche Arbeitsplätze in der Industrie verloren gehen, wenn die Produktion sich weitgehend selbst steuert?
Mainzer: Die Entwicklung wird in erster Linie die Effektivität der Industrie stärken. Sie wird nicht Arbeitslosigkeit produzieren. Die Länder mit der größten Arbeitslosigkeit in Europa, beispielsweise Spanien oder Frankreich, sind Länder, die deutlich weniger entwickelt sind als Deutschland. Arbeitslosigkeit hat also andere Gründe. Ich teile auch nicht die Horrorvorstellung, dass wir am Ende nur noch hochqualifizierte Ingenieure mit Universitätsdiplomen brauchen und den Rest machen Maschinen. Wir werden das Know-how der Menschen weiterhin auf allen Gebieten brauchen.
Allerdings werden sich die Anforderungen ändern. Die Innovationszyklen sind schon jetzt in vielen Bereichen schneller als unsere Ausbildungszyklen. Wir müssen uns also künftig überlegen, wozu wir die Menschen eigentlich ausbilden. Wenn wir jemandem heute in der Lehre ein bestimmtes Computerprogramm beibringen, ist das schon überholt, wenn er in den Betrieb kommt. Deswegen müssen wir die Fähigkeit des Menschen ausbilden, sich in neue Arbeitsprozesse einzuarbeiten und sich auf neue Situationen einzustellen. Ich denke, es wird in Zukunft absolut zur Normalität gehören, dass ein Teil der Mitarbeiter immer in Lehrgängen und Fortbildungen sein wird, um sich auf neue Abläufe vorzubereiten.
"Diese Technik ist zutiefst menschlich"
tagesschau.de: Wird durch die immer komplexer werdenden Abläufe und höheren Anforderungen nicht die Entfremdung in der Arbeitswelt immer stärker zunehmen?
Mainzer: Dem würde ich vehement widersprechen. Zum einen, weil unsere Arbeitswelt ja längst nicht mehr so aussieht, dass ein Schmied auf sein Werkstück hämmert. Die Allermeisten arbeiten ja schon heute mit computergestützten Systemen.
Zum anderen reden wir hier von einer Technologie, die ich als zutiefst menschlich bezeichnen würde. Die ersten Computerprogramme liefen noch über abstrakte Codes, die nur von Informatikern bedient wurden. Dann kamen Bill Gates und andere und haben Icons, also einfache Symbole entwickelt, über die wir mit dem Finger wischen, die also geradezu sinnlich wahrnehmbar sind. Diese Technologie ist es, die zum Erfolg bei den Massen wurde. Weil es eine Technik ist, die ganz nah an uns Menschen herankommt und unser visuelles und haptisches Bedürfnis bedient. Bei den Smartphones kommt unser Bedürfnis nach Kommunikation hinzu. Die Technik bedient also nur etwas, was in uns steckt und deswegen ist sie heute ein so großer Erfolg.
Sollte sich die Technik tatsächlich vom Menschen entfremden, würde sie sich nicht durchsetzen, denn das wird ja über den Markt entschieden. Es gibt ja Technologien, die sich nicht durchgesetzt haben. Telefax ist so ein Beispiel.
"Große Herausforderung: Datensicherheit"
tagesschau.de: Welche Gefahren sind mit der Industrie 4.0 verbunden?
Mainzer: Anders als die Automobilindustrie ist insbesondere der Mittelstand, beispielsweise der deutsche Motor- und Anlagebau, sehr skeptisch gegenüber der Industrie 4.0. Denn sie hängt von der sogenannten Cloud-Technik ab. Das heißt, die Daten werden in die Wolke gestellt und sind damit im Internet und nicht mehr auf meiner Festplatte. Wenn ein Mittelständler nun ein Erfolgskonzept hat, mit dem er auf dem internationalen Markt gutes Geld verdient, wird er sich hüten, das in die Cloud zu stellen. Erst recht nicht nach den Debatten über NSA und Industriespionage.
Die Datensicherheit ist momentan die Schattenseite dieser Technologie, insbesondere auch die der Mitarbeiter. Denn die Industrie 4.0 produziert gewaltige Datenmengen: Die Automatisierung der Arbeitsprozesse ist nur möglich, weil unzählige Sensoren, Kameras und Lichtschranken Arbeitsvorgänge und Bewegungsabläufe aufnehmen, auch die von menschlichen Mitarbeitern. Die Gefahr ist, dass hier durch Algorithmen Persönlichkeitsprofile erstellt werden können, die man für alle möglichen Zwecke missbrauchen kann. Dagegen ist die Stasi mit ihren Zettelkästchen harmlos. Hier gibt es erheblichen Regelungsbedarf und unsere Juristen hecheln der Entwicklung hinterher. Das ist die große ethische Herausforderung bei der Industrie 4.0.
"Wir müssen Abstand von Technik und Onlinewelt gewinnen"
tagesschau.de: In dem amerikanischen Film "Her" verliebt sich ein Mann in die weibliche Stimme seines Computersystems. Das System organisiert seinen gesamten Tagesablauf und kennt ihn bald besser als er sich selbst. Sind solche Szenarien tatsächlich denkbar?
Mainzer: Der Film zeigt ein relativ realistisches Zukunftsszenario, das für uns schon heute in vielen Punkten nachvollziehbar ist. Was wir hier sehen, ist zudem ja nicht so neu: In den 1950er-Jahren konnte man beobachten, wie manche Männer ihre Autos am Wochenende liebevoll putzen. Man hatte den Eindruck, sie streicheln ihre Autos geradezu und lieben sie fast mehr als ihre Partnerinnen. Das gehört zu unserer menschlichen Natur: Wenn uns Dinge besonders vertraut sind, vermenschlichen wir sie.
Die Technik gibt uns jetzt neue Möglichkeiten, diese Veranlagung auszuleben. Natürlich muss man das auch kritisch sehen. Wir dürfen uns nicht von der Technik abhängig machen. Wir müssen lernen, Abstand zu den technischen Geräten und auch zur Onlinewelt zu gewinnen. Nur so lernen wir auch die Grenzen dieser Technologien richtig einzuschätzen.
Das Gespräch führte Sandra Stalinski, tagesschau.de