Ein Auszubildender bohrt ein Gewinde
interview

Folgen des Fachkräftemangels "Alle Hebel müssen in Gang gesetzt werden"

Stand: 06.12.2023 08:19 Uhr

Schon jetzt fehlen in Deutschland rund zwei Millionen Fachkräfte. Gehen die "Babyboomer" in Rente, werden es mehr. Wie sich gegensteuern lässt, erklärt der der Arbeitsmarktexperte Enzo Weber im Interview.

tagesschau24: Rund zwei Millionen Stellen sind derzeit unbesetzt. Viele Betriebe suchen Personal. Welche Branchen sind denn besonders stark betroffen?

Enzo Weber: Diese Arbeitskräfte-Knappheit ist inzwischen ein breites Phänomen. Vor der Pandemie waren hauptsächlich die Bereiche Pflege und Erziehung betroffen. Durch die Energiewende ist es nun auch im Handwerk oder Verkehrssektor sehr eng geworden. Und auch die Gastronomie muss ihre Lücken stopfen. Arbeitskräfte sind heute so knapp wie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr.

"Arbeitskräfte sind heute so knapp wie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr in Deutschland", Prof. Enzo Weber, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), zum Personalmangel in Deutschland

tagesschau24, 01.12.2023 09:00 Uhr

tagesschau24: Wo kein Personal ist, können auch keine Aufträge angenommen oder abgearbeitet werden. Heißt das denn, dass Betriebe in Zukunft auch weniger Aufträge annehmen werden?

Weber: Die Wirtschaft kann in der Tat nur Leistungen erbringen, soweit es das Potenzial hergibt. Grundsätzlich waren noch nie so viele Menschen in Deutschland beschäftigt wie derzeit. Das heißt, bisher gab es keine Schrumpfung. Die Personalengpässe haben aber vor allem auch damit zu tun, dass der Bedarf insgesamt gestiegen ist und weiter steigen wird.

Zur Person
Professor Enzo Weber leitet den Forschungsbereich Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Der Volkswirtschaftler ist außerdem Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg. 

Ob Handwerk, Pflege oder Bildung: Der Bedarf steigt

tagesschau24: Warum ist der Bedarf denn gestiegen?

Weber: Seit der Massenarbeitslosigkeit in den 2000er-Jahren haben wir einen wirklich starken Arbeitsmarkttrend. Wir hatten Arbeitsmarktreformen und haben mittlerweile einige positive Trends. In der Erziehung steigt der Bedarf immer weiter aufgrund des Kita-Ausbaus; in der Pflege steigt der Bedarf aufgrund der Alterung; in der Informationstechnologie aufgrund der Digitalisierung und im Handwerk wegen der Energiewende. Das sind Herausforderungen, die trotz einer Wirtschaftsflaute angegangen werden müssen und Beschäftigung sichern.

tagesschau24: Rechnen Sie damit, dass sich zum Beispiel Handwerker diesen wachsenden Bedarf und die damit verbundene hohe Belastung auch entsprechend bezahlen lassen?

Weber: Eine unserer Studien zeigt, dass es 400.000 zusätzliche Kräfte im technischen und handwerklichen Bereich bräuchte, um allein die Ziele des Koalitionsvertrags in der Klima- und Baupolitik umzusetzen. Gleichzeitig gehen immer weniger Menschen in die berufliche Ausbildung, wodurch weitere Engpässe entstehen. Das Potenzial, dass die Handwerker ihre Stundensätze erhöhen und für Kunden die Kosten damit steigen, besteht dadurch auf jeden Fall. Das sieht man ja jetzt schon. In manchen Bereichen hat man schon Stundensätze, die bei 70 Euro liegen.

Flexible Arbeitszeiten werden wichtiger

tagesschau24: Es gibt Experten, die bei Handwerkern in den nächsten Jahren mit dreistelligen Stundensätzen rechnen. Halten Sie das für realistisch?

Weber: Dreistellige Stundensätze sind schon noch ein Stück weg. Die Preise hängen allerdings auch vom Ort ab. In den Ballungszentren gibt es heute schon wirklich hohe Sätze, die nicht mehr ganz so weit von dreistelligen Stundensätzen entfernt sind.

tagesschau24: Wie können Ausbildungsberufe insgesamt attraktiver gemacht werden?

Weber: Durch die Energiewende steigt der Bedarf und damit auch die Chance, dass Handwerksjobs attraktiver werden. Denn die waren in der Vergangenheit oftmals nicht so angesehen wie beispielsweise die etablierten Industriejobs. Das könnte sich jetzt ändern. Und da wird es sicherlich Veränderungen bei der Bezahlung, aber auch den Arbeitsbedingungen geben. Auch die Flexibilität bei der Arbeitszeit wird immer wichtiger, sodass die Arbeit dem eigenen Leben angepasst werden kann.

"Es braucht Investitionen"

tagesschau24: Wenn die Generation der "Babyboomer" in den nächsten Jahren in Rente geht, werden noch mehr Fachkräfte fehlen. Wie gravierend wird das Problem in den nächsten Jahren sein?

Weber: Da stehen wir vor einer wirklich großen Herausforderung. Dadurch, dass bis 2035 eine große Generation in Rente geht und eine kleine Generation nachkommt, würden wir sieben Millionen Erwerbstätige verlieren. Das wird aber nicht eintreten, weil es ausgeglichen werden kann. Wenn ältere Menschen länger im Erwerbsleben bleiben und auch in belastenden Berufen geeignete Tätigkeiten ausüben. Oder wenn die berufliche Entwicklung von Frauen trotz der Kinderphase gefördert und gleichzeitig eine offene Zuwanderungspolitik und eine entsprechende Integration in den Arbeitsmarkt betrieben wird, können wir die Schrumpfung vermeiden. Aber dafür wirklich müssen alle Hebel in Gang gesetzt werden.

tagesschau24: In Deutschland gibt es derzeit rund 900.000 Langzeitarbeitslose. Wie können diese Menschen wieder hier in Deutschland in Beschäftigung gebracht werden?

Weber: Da kommt es auf den individuellen Fall an. Denn oftmals gibt es dabei Schwierigkeiten wie fehlende Qualifikationen oder gesundheitliche Einschränkungen. Und dafür braucht es Investitionen. Wenn jetzt noch eine wirtschaftliche Erholung dazukommt, werden wir in Deutschland die Vollbeschäftigung weiter ansteuern.

tagesschau24: In dem Zusammenhang steht das Bürgergeld oft in der Kritik. Es sei ein Anreiz, nicht zu arbeiten. Halten Sie die Kritik für berechtigt?

Weber: Es gibt derzeit die Diskussion, dass viele Menschen jetzt ihre Jobs kündigen, um anschließend Bürgergeld zu beziehen. Wenn wir uns dazu allerdings Statistiken anschauen, dann entsteht ein anderes Bild. Noch nie sind so wenige Menschen aus Jobs neu in die Arbeitslosigkeit mit Bürgergeld gegangen, wie es im Moment der Fall ist. Es gehen zwar auch relativ wenige Menschen vom Bürgergeld wieder in die Beschäftigung - aber seit Corona, nicht seit Bürgergeldeinführung.

Wir haben kein akutes Problem, wir haben ein grundsätzliches: Wenn man seinen Verdienst ausweitet, bleibt einem davon oft nicht viel übrig. Hier müssen wir soziale Leistungen wie Bürgergeld, Wohngeld und Kindergrundsicherung gut aufeinander abstimmen und bei der Einkommens-Anrechnung bessere Anreize bieten.

Die Fragen stellte Anne-Catherine Beck, ARD-Finanzredaktion. Das Interview haben wir für die schriftliche Fassung redaktionell bearbeitet.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 01. Dezember 2023 um 09:00 Uhr.