Interview

Interview zum Wahldekabel der SPD "In der SPD wird es ein Hauen und Stechen geben"

Stand: 28.09.2009 08:51 Uhr

Der SPD fehlt ein Markenkern - für viele Wähler ist sie nicht mehr die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Sie muss sich grunderneuern, meint deshalb der Politologe Niedermayer im Gespräch mit tagesschau.de. Zuvor jedoch werde es bei den gerupften Sozialdemokraten zu einem "Hauen und Stechen" kommen.

tagesschau.de: Herr Niedermayer, was ist die größte Überraschung des Wahlsonntags?

Oskar Niedermayer: Dass die FDP noch mehr zulegen konnte als gedacht. Ich hatte schon erwartet, dass es knapp für Schwarz-Gelb knapp reicht, aber ich hatte die Union besser gesehen, als sie war. Die zweite große Überraschung war der dramatische Absturz der SPD.

"Das TV-Duell wurde überschätzt"

tagesschau.de: Den hatten Sie in dem Ausmaß nicht erwartet?

Niedermayer: Nein, obwohl ich durchaus damit gerechnet hatte, dass die Aufholjagd nicht so stark sein würde, wie es einige Umfragen in den vergangenen Tagen noch suggeriert hatten. Es hat sich jetzt wohl bestätigt, dass sich die positiven Effekte des TV-Duells für Frank-Walter Steinmeier nach den ersten Tagen wieder verflüchtigt haben und zuletzt überbewertet wurden.

Oskar Niedermayer
Zur Person

Oskar Niedermayer ist Politikwissenschaftler, war zuletzt Professor an der FU Berlin und ist inzwischen emeritiert. Schwerpunkte seiner Forschung sind politische Einstellungen sowie die Parteien- und Wahlforschung.

tagesschau.de: Wofür ist die SPD bestraft worden?

Niedermayer: Sie hat seit längerer Zeit ein inhaltliches Glaubwürdigkeitsproblem. Das Stichwort in dieser Debatte lautet ja immer "Agenda 2010". Aber meiner Ansicht nach hat das schon sehr viel früher angefangen, nämlich 1998: Damals hat die SPD den Leuten versprochen, den Sozialstaat umzubauen, ohne dass es den Bürgern wirklich weh tut. Das Versprechen konnte man in der Regierung nicht halten. Die SPD hat durch die Veränderung ihrer Position im Konflikt um den Sozialstaat einen Teil ihrer traditionellen Wähler verloren, ohne dass sie neue Wählerschichten dauerhaft an sich binden konnte.

Zudem hat diese Politik zu einer Änderung des Parteiensystems geführt: zur Linkspartei, und die bedeutet einen strukturellen Nachteil für die SPD gegenüber der Union.

tagesschau.de: Ist das katastrophale Ergebnis auch ein Denkzettel für den verkrampften Umgang mit der Linkspartei?

Niedermayer: Der SPD ist nichts anderes übrig geblieben - auch wegen Ypsilanti - dieses Mal einen klaren Abgrenzungskurs zur Linkspartei zu fahren. Ich bin mir aber auch sicher, dass bei der nächsten Wahl eine rot-rote Koalition von beiden nicht mehr ausgeschlossen wird.

Schon fast keine Volkspartei mehr

tagesschau.de: Das schlechteste SPD-Ergebnis bei einer Bundestagswahl überhaupt trifft auf eine ebenfalls historisch niedrige Wahlbeteiligung. Und es gibt einen direkten Zusammenhang: Zwei Millionen ehemalige SPD-Wähler sind zu Hause geblieben. Warum?

Niedermayer: Die SPD hat es nicht vermocht, wieder einen klaren Markenkern zu entwickeln, um ihre potenzielle Klientel halbwegs zu mobilisieren. Dass die zu einem beachtlichen Teil gar nicht gewählt hat, zeigt, dass die SPD bei diesen Leuten noch nicht wieder als die Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen wird, die sie mal war. Sie sind aber auch noch nicht bereit, zur Alternative, der Linkspartei, abzuwandern. Die SPD kann also damit rechnen, einen Teil dieser Leute zurückzugewinnen, wenn sie eine klarere Position vertritt und wieder glaubwürdiger wird.

tagesschau.de: Ist die SPD noch eine Volkspartei?

Niedermayer: Momentan schon fast nicht mehr. Mit 23 Prozent kann man dieses Etikett nur noch unter Schwierigkeiten verleihen. Ob sie als Volkspartei mittelfristig gestorben ist, kann man aber noch nicht sagen. Sie hat jetzt in der Opposition die Chance, diejenigen wiederzugewinnen die gestern nicht gewählt haben. Die anderen sind verloren, und deshalb kann sie auch nicht zur alten Größe zurückfinden.

Nach der Schockstarre: Hauen und Stechen

tagesschau.de: Bleibt also nur noch die Öffnung zur Linkspartei.

Niedermayer: Die SPD muss eine Gratwanderung schaffen: Sie sollte sich keinen Überbietungswettbewerb mit der Linkspartei liefern. Die wäre da im Vorteil, weil sie immer noch einen draufsetzen kann. Die SPD muss versuchen, einen eigenständigen Platz gegenüber der Linkspartei und den Grünen zu finden, einen einzigartigen Markenkern, der sie unterscheidbar macht von der Linkspartei und den Grünen. Sie muss aber auch eine Lagerbildung hinbekommen, sich also auch Koalitionen mit der Linkspartei öffnen.

tagesschau.de: Eine der ersten Botschaften des SPD-Kandidaten Steinmeier am Wahlsonntag war, nun Fraktionschef der SPD werden zu wollen. Klingt das für viele Sozialdemokraten nach diesem Wahlausgang nicht wie eine Drohung?

Niedermayer: Momentan befindet sich die SPD in einer Schockstarre. Wenn die aber überwunden ist, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es ein Hauen und Stechen geben wird, weil die Partei natürlich nicht zur Tagesordnung übergehen kann und Veränderungen kommen müssen - auch Personalveränderungen. Mir scheint aus der jetzigen Führungsriege allerdings SPD-Chef Franz Müntefering gefährdeter als Steinmeier. Allerdings ist die Frage, ob die jetzt etwas nach links gerückte Fraktion Steinmeier einmütig zu ihrem Chef machen wird.

Ich würde der SPD raten, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, es personell jetzt also nicht zu weit zu treiben, weil es innerparteilich zu Verwerfungen führen wird, wenn die gesamte Führung ausgetauscht wird. Sicher bin ich mir da nach diesem desolaten Wahlergebnis allerdings überhaupt nicht: Es könnte sein, dass die SPD unkontrollierbar wird. 

Das Gespräch führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.