Kandidatenwechsel bei Demokraten Bidens Tragödie, Harris' Chance
US-Präsident Biden hatte sich hineingesteigert in die Illusion, nur er könne Trump schlagen. Nun läuft seiner Vize Kamala Harris die Zeit davon. Chancenlos ist sie jedoch nicht.
Was für eine menschliche Tragödie. Wäre Joe Biden bei dem Zeitplan geblieben, den er bei Amtsantritt vor vier Jahren im Sinn hatte, dann wäre er als ein Mann von seltener Größe in die Geschichtsbücher eingegangen.
Einer, der aus Pflichtbewusstsein in turbulenten Zeiten, nach den chaotischen Trump-Jahren, in hohem Alter noch einmal Verantwortung übernimmt. Einer, der als einzigartiges politisches Schlachtross eine Übergangszeit gestaltet: Das Land wieder in ruhigeres Fahrwasser führt und gleichzeitig den Weg ebnet für einen Generationswechsel. Das hätte eine außergewöhnliche Präsidentschaft werden können.
Altersstarrsinn ging mit Realitätsverlust einher
Doch leider ließ sich Biden am Ende dann doch von der Macht korrumpieren. Er hatte sich hineingesteigert in die Illusion, nur er sei in der Lage gewesen, Trump zu schlagen, und nur er könne das wiederholen. Altersstarrsinn ging mit Realitätsverlust einher: Zuletzt musste er die schmerzhafte Erfahrung machen, dass ihm auch der Rückhalt bei langjährigen Weggefährten wie Barack Obama oder Nancy Pelosi wegbrach.
Jetzt wird der Eintrag in die Geschichtsbücher lauten: Biden scheiterte tragisch. Was der großen Lebensleistung dieses Mannes nicht gerecht wird. Wie bitter, wie vermeidbar …
Die Demokraten müssen Schaden begrenzen
Jetzt kommt es also wahrscheinlich doch so wie ursprünglich geplant. Aufarbeiten können die Demokraten ihren überflüssigen Umweg immer noch: Vorerst müssen sie jedoch den Schaden begrenzen. Harris muss schnellstmöglich nominiert werden, denn ihr läuft die Zeit davon: Es bleiben gerade einmal dreieinhalb Monate dafür, glaubhaft aus dem Schatten ihres bisherigen Chefs heraus zu treten.
Harris ist nicht nur durch den unwürdigen und quälenden Abgang des ursprünglichen Kandidaten beschädigt. Auch ihr wird die Problemlast der gemeinsamen Präsidentschaft mit Biden angelastet: Stichworte Lebenshaltungskosten, Inflation, Migration, Kriegskosten und, und, und …
Harris muss sich als echte Alternative präsentieren
Am Ende jedoch könnten die Chancen überwiegen. In beiden politischen Lagern war stets die Unzufriedenheit über die wenig elektrisierende Neuauflage des Duells Biden gegen Trump groß. Harris muss sich als frische, zukunftsgewandte Alternative zu den sprichwörtlichen "alten weißen Männern" präsentieren, denen es zuletzt vor allem darum zu gehen schien, Rechnungen aus der Vergangenheit zu begleichen.
Dass Harris‘ Kalkül aufgehen könnte, spiegelt sich in der Nervosität, die spürbar im Trump-Lager umgeht. Gerade noch dominierte die Krönungsmesse für Trump und Vance die Schlagzeilen, schon scheint der Hype von vorgestern. Unter Republikanern geht berechtigterweise die Angst um, das komplette Trump-Comeback könne jetzt vorgestrig herüberkommen.
Amerika ist immer für eine Überraschung gut
Wenn Trump jetzt behauptet, Harris sei leichter zu schlagen als Biden, dann ist das reines Wahlkampfgetöse. In Wahrheit wird es nicht leicht für ihn in dieser schnelllebigen Nachrichtenzeit, Bidens unwürdigen Abgang und Harris‘ Mitverantwortung für die schlechte Stimmung im Lande dauerhaft politisch auszuschlachten.
Ob die USA jedoch reif sind für eine Frau mit doppeltem Migrationshintergrund im Weißen Haus, das ist eine ganz andere Frage. Aber wenn etwas bestätigt wurde in den vergangenen Tagen, dann dieses: Amerika ist immer für eine Überraschung gut.
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