Ampel-Entwurf zur Wahlrechtsreform Größere Wahlkreise sind das kleinste Übel
Der Ampel-Entwurf für eine Wahlrechtsreform ist umstritten und könnte am Ende vor dem Verfassungsgericht landen. Dabei ist der Plan nicht schlecht. Doch es gäbe eine bessere Lösung, meint Daniel Pokraka - zum Beispiel größere Wahlkreise.
Der Plan der Ampel ist radikal, aber er geht zumindest in die richtige Richtung. Der Bundestag platzt aus allen Nähten und muss kleiner werden. Und das Wahlergebnis, das wir am Wahlabend in Form von unterschiedlich hohen Balken auf dem Bildschirm sehen, muss die Mehrheitsverhältnisse im neuen Parlament abbilden.
Der Preis dafür ist, dass nicht jeder Wahlkreisgewinner automatisch in den Bundestag einzieht. Dass das der Union nicht passt, ist verständlich. Für die CSU hätte der Ampel-Plan, wäre er 2021 Gesetz gewesen, bedeutet, dass ihre Erststimmen-Siege in den Großstädten München, Nürnberg und Augsburg nicht ausgereicht hätten, um von dort Abgeordnete in den Bundestag zu schicken.
Überzogene Wortwahl der CSU
Die Wortwahl allerdings, mit der die CSU über den Ampel-Plan klagt ("organisierte Wahlfälschung" wie in "Schurkenstaaten", twittert Generalsekretär Martin Huber) ist überzogen und unverschämt - zumal die Union selbst für ein Wahlsystem wirbt, das sie bei der zurückliegenden Wahl zur Siegerin gemacht hätte. Demgegenüber ist der Ampel-Vorschlag der kleinere Eingriff: Die Kräfteverhältnisse im Bundestag wären so wie heute.
Bei Bundestagswahlen gilt ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Entscheidend ist hier das Substantiv Verhältniswahlrecht - das Partizip personalisiert ergänzt es nur und deutet darauf hin, dass es Wahlkreise mit Direktkandidaten gibt. Dass diese mit der Erststimme gewählt werden, ist womöglich für das Missverständnis verantwortlich, dies sei die wichtigere Stimme. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Die Zweitstimme, die zu dem Wahlergebnis führt, das wir am Wahlabend als Balken auf dem Bildschirm sehen, ist die wichtigere - der Wählerwille für die Zusammensetzung des Bundestags.
Gewohnheitsrecht spricht gegen Ampel-Vorschlag
Weil das so ist, ist es auch vertretbar, Wahlkreisgewinnern keinen Sitz im Bundestag zuzuteilen, wenn ihre Partei dafür nicht ausreichend Zweitstimmen hat. Treffen würde das in der Regel Sieger, die mit 30 Prozent oder weniger gewonnen haben - für die also 70 Prozent oder mehr nicht votiert haben. Bei Bürgermeister- oder Landratswahlen müsste man mit so einem Ergebnis selbstverständlich in eine Stichwahl gegen den Zweitplatzierten - für den Bundestag reicht es? Diese Praxis kann man aus guten Gründen hinterfragen.
Und doch spricht ein gewichtiger Grund dagegen, manche Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einziehen zu lassen - und der heißt Gewohnheitsrecht. Experten, Journalisten und Juristen mögen den Ampel-Plan nachvollziehen können - die meisten Bürger vermutlich nicht. Auch wenn die Erststimme umgetauft wird in Wahlkreisstimme: Wer hier sein Kreuzchen macht, erwartet, dass jemand aus dem Wahlkreis in den Bundestag einzieht, so, wie es immer war. Ein Verständnisproblem, ein Akzeptanzproblem und letztlich womöglich: ein Demokratieproblem.
Alternative: Größere Wahlkreise
Der aus Wählersicht weniger schwerwiegende Eingriff in das Wahlrecht wäre: weniger Wahlkreise. 200 statt 299, die restlichen 400 Abgeordneten kämen wie bisher über die Liste. Überhangmandate würden damit sehr unwahrscheinlich, und ganz nebenbei würde mit der Reduzierung der Wahlkreise ein für allemal das Märchen beendet, die Erststimme sei wichtiger oder genauso wichtig wie die Zweitstimme.
Ja, auch größere Wahlkreise sind ein Problem: manche sind gerade in ländlichen Gebieten schon jetzt sehr groß, und beim Neuzuschnitt von Wahlkreisen würden sich oft zwei alte Abgeordnete um einen neuen Wahlkreis streiten. Aber das ist nicht das Problem der Wähler.
Einen Tod muss man sterben. Wenn man den Bundestag verkleinern will auf die Regelgröße von rund 600 Abgeordneten, ohne das Verhältniswahlrecht und die Existenz von Wahlkreisen anzutasten, dann sind größere Wahlkreise das kleinste Übel.
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