Bundeskanzler Olaf Scholz richtet bei einer Pressekonferenz mit Palästinenserpräsident Abbas Mitte August 2022 sein Mikrofon im Ohr.
Kommentar

Scholz' Reaktion auf Holocaust-Vergleich Ein viel zu lautes Schweigen

Stand: 17.08.2022 11:28 Uhr

Der Holocaust-Vergleich von Palästinenserpräsident Abbas - für ARD-Korrespondent Georg Schwarte unsäglich. Umso unverständlicher sei die fehlende direkte Reaktion des Kanzlers. Ein Schweigen, das wohl noch lange nachhallen werde.

Ein Kommentar von Georg Schwarte, ARD-Hauptstadtstudio

"Ich bin zutiefst empört über die unsäglichen Aussagen des palästinensischen Präsidenten Abbas. Gerade für uns Deutsche ist jegliche Relativierung des Holocaust unerträglich und inakzeptabel." Diese Reaktion von Bundeskanzler Olaf Scholz ist eindeutig - aber auch eindeutig zu spät. 16 lange Stunden vergingen, bevor der Kanzler selbst via Twitter reagierte.

Ein Bundeskanzler reagiert mit sieben getwitterten Zeilen auf einen der vermutlich größten kalkulierten Tabubrüche, die sich ein Präsident jemals im Berliner Kanzleramt leistete. "50 Massaker in 50 palästinensischen Dörfern. 50 Holocausts", sagte Abbas gestern am frühen Abend im Kanzleramt. Holocaust. Alle hören es. Der Bundeskanzler steht zwei Meter daneben. Die Miene unlesbar. Reaktion - keine.

Es hätte klare Worte gebraucht

Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Die Einmaligkeit des Verbrechens namens Holocaust ist deutsche Schuld und Schande. Die Relativierung auf deutschen Boden im Amtssitz eines deutschen Kanzlers ist ungeheuerlich und hätte mehr gebraucht, als nur eine versteinerte Miene und die hilflose Geste, ausgerechnet einem Boulevardblatt anschließend mitzuteilen, der Kanzler sei wirklich empört gewesen. Und er habe nur nicht widersprochen, weil sein Sprecher die Pressekonferenz zuvor beendete. Ernsthaft?

Ein Bundeskanzler beendet Pressekonferenzen. Und ein Bundeskanzler widerspricht, wenn der Holocaust, die deutsche Schuld, relativiert wird.

Wo blieb der kommunikative Sachverstand?

Niemand zweifelt auch nur eine Sekunde an der grundsätzlichen Haltung dieses Bundeskanzlers, wenn es um die Verurteilung von Antisemitismus und die Solidarität mit Israel geht. Aber viele zweifeln gerade am kommunikativen Sachverstand eines deutschen Regierungschefs, der solche Worte unkommentiert stehen lässt. "50 Holocausts durch Israel." Das hallt nach weit über Berlin hinaus, wo sie einst den Holocaust planten und organisierten.

Nie wieder. Auch Olaf Scholz sagte diese Worte. Nie wieder. Aber auch nie wieder schweigen. Scholz schwieg zur falschen Zeit.

Mahmoud Abbas ist bekannt für derlei Reden, Jahr um Jahr zu hören vor der UN-Vollversammlung. Der Apartheidsvorwurf gegen Israel - erst im vergangenen Jahr wiederholt im Weltsaal der Vereinten Nationen in New York.

Bundesregierung hätte gewappnet sein müssen

In Berlin hätten sie ahnen können, nein müssen, dass es notwendig sein könnte, diesem latent brandstiftenden Präsidenten Abbas notfalls auf offener Bühne zu widersprechen. Beim Thema Apartheid tat es der Kanzler. Beim Holocaustvorwurf aber blieb er stumm. Das laute Schweigen von Scholz. Es hallt nach. Weit über den Auftritt dieses Palästinenserpräsidenten hinaus, der übrigens der palästinensischen Sache und vielen berechtigten Anliegen eines seit Jahrzehnten leidenden Volkes mehr geschadet hat, als es sich der 87-jährige Präsident vermutlich vorstellen konnte.

Der Kanzler hätte gestern zu Fuß mit Abbas zum Holocaustmahnmal laufen können. Und den Weg dorthin nutzen, um dem Palästinenserpräsidenten zu erklären, wie Deutschland über das einmalige Verbrechen Holocaust und über die deutsche Schuld denkt.

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Georg Schwarte, Georg Schwarte, ARD Berlin, 17.08.2022 20:30 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 17. August 2022 um 17:05 Uhr.