Jahresrückblick 1969 "Mehr Demokratie wagen"
Das aufrührerische und wilde Jahr 1968 hat die Gesellschaft verändert. Der Sieg der SPD/FDP-Koalition bei der Bundestagswahl im Oktober bringt deutliche Veränderungen. Willy Brandt wird Bundeskanzler. Sein Motto: "Mehr Demokratie wagen."
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Nach den Protesten und Unruhen des letzten Jahres suchen die Menschen wieder mehr nach Ruhe und häuslichem Glück. Die Protestler konzentrieren sich wieder auf banale Freuden und Ziele. Trotzdem bringt dieses Jahr tiefere Veränderungen als das aufrührerische Vorjahr.
Eine Führungsschicht tritt ab, die die Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat. Der Wechsel beginnt mit der Wahl Gustav Heinemanns zum Präsidenten.
Nach der Wahl zum sechsten Deutschen Bundestag ist in der Bundesrepublik Deutschland erstmals die Bildung einer SPD/FDP-Regierung möglich.
Auch wenn bei der Wahl die CDU/CSU stärkste Fraktion bleibt, erzielt die SPD als einzige Partei Stimmengewinne. Unmittelbar nach der Wahl nehmen SPD und FDP erste Koalitionsverhandlungen auf. Am 3. Oktober wird Bundespräsident Gustav Heinemann von Willy Brandt und Walter Scheel über deren Absicht "zusammen regieren zu wollen" unterrichtet. Am 21. Oktober wird Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt, Walter Scheel wird Vizekanzler.
In seiner Regierungserklärung am 28. Oktober vor dem Bundestag kündigt Bundeskanzler Willy Brandt das umfangreichste Reformprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte an. Das Programm ist geprägt von der Leitidee "Mehr Demokratie wagen". So zeigt er unter anderem unter dem Motto "Zwei Staaten - Eine Nation" die Bereitschaft zu gleichberechtigten Verhandlungen mit der DDR.
Macht- und Generationswechsel findet auch an den Universitäten statt. Das Verlangen der jungen Generation nach Mitsprache und Gehör macht sich überall bemerkbar. Auch in den Kirchen rücken die Jungen auf und hinterfragen auch die politische Dimension der Religionen.
Sogar die bundesdeutschen Leichtathleten organisieren sich selbst und entkommen dem "Gängelband" der Funktionäre.
Im September bricht mit einem Ausstand von Stahlarbeitern in Dortmund eine Streikwelle, die sogenannten "Septemberstreiks" aus. Die Arbeiter kämpfen in diesen "wilden", nicht von den Gewerkschaften organisierten Streiks um Lohnerhöhungen.
Erstmals kommt es im kommunalen Bereich der Bundesrepublik zu Streiks, nachdem die Spitzengespräche im Öffentlichen Dienst gescheitert sind. Auch Proteste gegen Fahrepreiserhöhungen des Öffentlichen Verkehrs sind Teil des neuen Selbstverständnisses.
Die neue Suche nach Offenheit und Aufklärung macht auch vor den Schlafzimmern nicht Halt. Allerorten gilt das Thema Sex. Bücher und Publikationen können offen und überall erworben werden.
Trotzdem haben manche Menschen ein Bedürfnis nach Verstohlenheit. Dies wird in den Angeboten allerdings kaum berücksichtigt. Aber: Die Bundesrepublik scheint jedoch freier, offener und erwachsener geworden zu sein.
Die neue Regierung Brandt ermuntert die Bürger zum kritischen Mitdenken. Die Demokratie und die Politik der neuen Regierung seien tolerant.