Ringen um die Gesundheitsreform Große Koalition - kleinster gemeinsamer Nenner
Kein politisches Vorhaben kennzeichnet die Probleme der Großen Koalition so deutlich wie die Gesundheitsreform. Verhandelt, vermittelt, verworfen - das war das übliche Prozedere. Anfang Juli einigten sich Union und SPD endlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Doch auch dieser Kompromiss ist brüchig.
Von Marcus Bornheim, BR, ARD-Hauptstadtstudio
Es gibt nur wenige Momente, in denen die Politik die Maske fallen lässt, in denen Ausdruck und Wirklichkeit so nah beieinander liegen. Die Nacht vom 2. auf den 3. Juli 2006 ist so ein Moment. Während draußen Fußball-Deutschland dem Höhepunkt entgegenfiebert, ist die Koalition am Tiefpunkt angelangt.
Seit zehn Stunden wird die Gesundheitsreform verhandelt, Kaffeekanne um Kaffeekanne geleert. Erst, als sich morgens um halb sechs die Sonne zeigt, erst dann steht - oder besser wankt - ein Kompromiss. Ein Sieg des kleinsten gemeinsamen Nenners über die großen Ambitionen einer Koalition. Verheddert irgendwo zwischen Überforderungsklauseln, Risiko-Strukturausgleich, Beitragssätzen und Prämien. Das Elend einer politischen Nacht, verdichtet in drei Augenpaaren.
"Als ich gesehen habe, dass die wieder zusammen gesessen sind bis morgens um fünf, sechs Uhr und dann meinten, sie hätten etwas zu verkünden, habe ich mich erinnert gefühlt an die Zeit im Studentenparlament", sagt FDP-Chef Guido Westerwelle. "Das war genauso unausgegoren.“
„Ich bin davon überzeugt, wenn wir streitig auseinander gegangen wären, wäre die Koalition in eine krisenhafte Situation geraten, denn dann hätten natürlich alle Lobbyisten noch mehr gezerrt und gezogen", meint hingegen SPD-Chef Kurt Beck. "Das ist ja völlig klar, weil sie eine Chance gewittert hätten. Dann hätten wir, glaube ich, überhaupt nichts mehr hinbekommen. Und für andere Reformen wäre dies ein Menetekel gewesen.“
Nahkampf im Regierungsviertel
Doch schon wenige Tage später geht der koalitionsinterne Nahkampf los: Aus Partnern scheinen wieder Gegner zu werden, doch die Kanzlerin hält sich raus. Wie eine Zuschauerin betrachtet sie das Ganze von der Seite. Sie ist viel unterwegs in diesem Sommer, weit weg von Berlin, während im Regierungsviertel die Reform scharf beschossen wird. Es wächst der Zweifel, es wächst das Misstrauen. Doch die Kanzlerin geht beim Gesundheitsstreit erstmal auf Tauchstation.
Die Unruhe bekommt auch der neue Boss der Genossen nicht in Griff: Kurt Beck, seit dem Frühsommer SPD-Chef, muss sich erst an die neue Rolle im Berliner Rampenlicht gewöhnen. Aber dann merkt man schnell: Da will einer führen. "Natürlich wünscht man sich immer, dass man selber noch mehr gestalten kann. Das gehört zur Politik mit dazu", sagt Beck. "Aber ich glaube, dass die Koalition gute Arbeit zu leisten in der Lage ist und dass wir in den vier Jahren für Deutschland das Notwendige und Richtige auch tun werden."
Lachende Gesichter in der Haushaltsdebatte
Die Lage hat sich zumindest zuletzt deutlich verbessert: Das erste Jahr Große Koalition endete mit einer Haushaltsdebatte, in der man viele lachende Regierende sah: Die Steuereinnahmen steigen, die Konjunktur läuft gut, die Arbeitslosigkeit sinkt unter vier Millionen. Das verschafft der Regierung Luft. Man fragt sich nur, wofür?
Wohin will die Kanzlerin?
"Meine Hauptkritik wäre, dass in wichtigen Fragen der Grundorientierung diese Kanzlerin selber eine Suchende ist und nicht eine, die eine Richtung anbieten kann", sagt Grünen-Chef Reinhard Bütikofer.
Genau das kritisiert man auch in Merkels eigener Partei: Wohin will die Kanzlerin eigentlich? Sie ist mal links, mal rechts, zwischendurch irgendwie Mitte. Und so weiß man nur eines ganz genau nach diesem Jahr: Diese Kanzlerin hat viele Gesichter.