Verfassungsschutz Wie umgehen mit den "Querdenkern"?
Die Verfassungsschutzbehörden beraten über den Umgang mit den sogenannten "Querdenkern". Die sich zunehmend radikalisierende Bewegung könnte bald bundesweit beobachtet werden.
Im Berliner Landeskriminalamt, in der Abteilung Staatsschutz, gibt es seit rund einem Jahr eine besondere Ermittlungsgruppe. Sie heißt "Quer" und befasst sich ausschließlich mit Straftaten im Zusammenhang mit Corona-Demonstrationen. Mehr als 1200 Straftaten und Ordnungswidrigkeiten haben die Staatsschützer bislang registriert, darunter 160 Angriffe auf Polizisten, mehr als 260 Widerstandshandlungen, knapp 200 Fälle von Landfriedensbruch und 17 gefährliche Körperverletzungen.
Breite Mobilisierung
Am kommenden Wochenende könnten noch mehr Verfahren hinzukommen: Die Szene der Corona-Leugner und selbsternannten "Querdenker" mobilisiert seit Tagen für eine Großdemonstration in Berlin und eine weitere in Kassel. Angekündigt ist zudem ein "heißer Frühling" mit zahlreichen Protesten.
Die Zahl der angemeldeten Demos hatte sich zuletzt noch einmal stark erhöht. Erst am vergangenen Wochenende waren rund 1000 Demonstranten durch Dresden gezogen, obwohl das örtliche Verwaltungsgericht den Protestmarsch zuvor untersagt hatte. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen, zwölf Polizeibeamte wurden verletzt.
Zunehmende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung
Die Sicherheitsbehörden stellen schon seit geraumer Zeit eine zunehmende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung in der "Querdenker"-Bewegung fest - und beraten nun, wie man mit dem Phänomen weiter umgehen soll. Dabei geht es auch um die Frage, ob Corona-Leugner und Verschwörungsideologen zukünftig bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollen, auch wenn es sich bei der Mehrzahl der Teilnehmer an Kundgebungen und Protesten weiterhin nicht um Extremisten handele, wie es aus dem Verfassungsschutz heißt. Es sei allerdings eine zunehmende Radikalisierung der Szene festzustellen.
"Das Bundesamt für Verfassungsschutz betrachtet fortlaufend die Verfassungsschutzrelevanz von Verschwörungstheorien und auch die Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen, um zu gegebener Zeit zu einer Einordnung zu kommen", sagt BfV-Präsident Thomas Haldenwang.
Neue Form des Extremismus
Bereits im Oktober 2020 hatten mehrere Verfassungsschutzbehörden unter Federführung des Bundesamtes die Corona-Proteste analysiert und ein 37-seitiges Sonderlagebild mit dem Titel "Gezielte Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen" erstellt. Darin warnen die Verfassungsschützer vor der Entstehung einer neuen Form des Extremismus, einem "Extremismus sui generis", der nicht in die "geläufigen Phänomenbereiche" falle.
"Demnach empfiehlt es sich nicht nur, die 'Unterwanderung' bekannter Extremisten in den Blick zu nehmen", heißt es in dem Papier der Verfassungsschützer. Geprüft werden müsse auch, "inwieweit bereits eine neue Form des Extremismus, die sich insbesondere über das als Informations- und Sozialisationsraum fungierende Internet verbreitet, entstanden ist".
Beobachtung bereits in einigen Bundesländern
In einigen Bundesländern hat der Verfassungsschutz die Szene bereits verstärkt in den Blick genommen. Eine bundesweite Beobachtung auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln wie Telefonüberwachung oder angeworbenen V-Leuten könnte demnächst folgen. Darüber beraten jedenfalls gerade die Landesbehörden und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe.
Am vergangenen Mittwoch erklärte Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU), der bayerische Verfassungsschutz werde künftig einen Teil der "Querdenker"-Szene beobachten. Beim Landesamt für Verfassungsschutz wurde dafür ein sogenanntes "Sammelbeobachtungsobjekt" angelegt. Die Verfassungsschützer nehmen damit Einzelpersonen und Zusammenschlüsse in den Blick, die zu gewaltsamen Aktionen gegen staatliche Einrichtungen aufrufen oder sich daran beteiligen. Es gebe inzwischen, so Hermann, "neuartige Strömungen", die nicht einfach dem Rechtsextremismus zuzuordnen seien, aber dennoch eine Gefahr für die Demokratie darstellten.
In Baden-Württemberg ist die Organisation "Querdenken 711" bereits seit dem vergangenen Jahr aufgrund "hinreichender Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung" als Beobachtungsobjekt eingestuft. "Die fortgeschrittene Radikalisierung der Gruppierung im Land macht eine Beobachtung ihrer Organisationsebene durch unseren Verfassungsschutz unabdingbar", sagte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) im Dezember vergangenen Jahres.
Verfassungsschutz prüft
Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) kündigte nach den gewaltsamen Ausschreitungen bei der "Querdenken"-Demonstration in Dresden am vergangenen Wochenende ebenfalls an, dass die sächsischen Sicherheitsbehörden die Szene stärker in den Blick nehmen würden - auch eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz schloss er nicht aus.
Das Bundesamt prüft aktuell, ob es sich bei "Querdenken" um einen verschwörungsideologischen Extremismus und um eine verfassungsfeindliche Bestrebung handelt - und in welcher Form das Phänomen beobachtet werden sollte: Ob etwa lediglich feste Strukturen, wie etwa Vereine oder Organisationen von "Querdenken" in den Blick genommen werden, oder, wie in Bayern, als "Sammelbeobachtungsobjekt" die Szene insgesamt - ähnlich wie es bereits bei den "Reichsbürgern" der Fall ist.
Rechtsextremisten üben Einfluss aus
Dass behördenbekannte Rechtsextremisten, Antisemiten, "Reichsbürger" und Selbstverwalter regelmäßig an Demonstrationen teilnehmen oder sogar als Organisatoren agieren, gilt als unstrittig. Auch würden sich beispielsweise zunehmend Akteure der islamfeindlichen Pegida-Bewegung den Corona-Protesten anschließen. Auch Neonazis aus dem Spektrum der Hooligan- und Kampfsport-Szene, die gezielt die Konfrontation mit Einsatzkräften der Polizei suchten, seien unter den Demonstrierenden.
Die Befürchtung in den Sicherheitsbehörden ist, dass sich die „Querdenken“-Szene durch die Erstürmung der Treppen des Reichtstagsgebäudes im August 2020 oder den Angriff von Trump-Fans auf das Capitol in Washington D.C. im Januar zu weiteren, ähnlichen Aktionen animiert fühlt. So seien etwa gezielte Attacken auf Impfzentren oder andere symbolträchtige Einrichtungen nicht ausgeschlossen.