Ein alter Autoreifen ragt zur Hälfte aus der Erde.
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Illegale Entsorgung Gefährliche Reifenberge

Stand: 09.08.2022 17:12 Uhr

Die illegale Lagerung gebrauchter Autoreifen wird zunehmend zum Problem, zeigen Recherchen des SWR. Weder Hersteller noch die Politik liefern absehbar Lösungen. Dabei gibt es Vorschläge und Vorbilder in der EU.

Von Michael Billig und Benedict Wermter, SWR

Jedes Jahr fallen in Deutschland rund 700.000 Tonnen Altreifen an. Ihre fachgerechte Verwertung ist teuer und kompliziert. Lange Zeit wurden gebrauchte Reifen in großen Mengen in Zementwerken zur Energiegewinnung verheizt. Doch die Zementindustrie schwenkt um auf Plastikmüll. Auch der Einsatz von granulierten Altreifen in Produkten wie Kunstrasen, Laufbahnen oder Fitnessstudiomatten wird schwieriger, weil immer höhere gesetzliche Anforderungen gelten.

Hinzu kommt, dass Reifen, die hierzulande gefahren werden, immer seltener auf Felgen in afrikanischen Ländern passen. Deutsche Reifen sind einfach zu breit, der Export stockt. Günstige "Chinareifen" verdrängen wiederum runderneuerte Altreifen vom Markt, weil neu billiger als recycelt ist. Und Seal-Reifen, die durch Klebstoff als "unplattbar" gelten, können auch nicht mehr recycelt werden.

Der steigende Entsorgungsdruck und hohe Kosten machen alte Reifen zu einer begehrten Ware für kriminelle Billig-Entsorger. Sie bieten einfache Lösungen an, zu Preisen, die eine saubere und legale Entsorgung unmöglich machen.

Illegale Entsorgung nimmt zu

Christina Guth beobachtet die illegale Entsorgung von Altreifen seit vielen Jahren. Sie leitet die Initiative ZARE - Zertifizierte Altreifen Entsorger. Es ist ein Zusammenschluss von Unternehmen, die im Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk organisiert sind. Guth dokumentiert zusammen mit ihren Mitarbeitern das Ausmaß der illegalen Ablagerung von Reifen und hat Hunderte Stellen bundesweit auf Grundlage von Meldungen und Zeitungsartikeln erfasst. "Was wir festgestellt haben, ist, dass die illegale Entsorgung zunimmt", sagt Guth. Allein im Jahr 2021 habe man bundesweit 195 Fälle gezählt, 31 mehr als im Jahr zuvor.

Seit 2016 zählt ZARE Fälle illegaler Reifenentsorgung in ganz Deutschland. Jedes Jahr stiegen demnach die Zahlen. Vor allem bei Größenordnungen von 50 bis 100 Reifen mache sich eine Zunahme bemerkbar. Da es sich dabei aber nur um gemeldete Fälle handle, liege die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher.

Illegales Abfalllager in Berlin

Wie einfach es ist, als Reifenhändler aufzutreten und fragwürdige Entsorgungsgeschäfte abzuschließen, decken die Journalisten im neuen Format Vollbild mit einer Undercover-Recherche auf. Über Wochen standen sie in Kontakt mit dubiosen Entsorgern. Einem Unternehmer, gegen den die Staatsanwaltschaft bereits wegen des Verdachts illegaler Abfallentsorgung ermittelt, übergaben sie eine mit einem Peilsender versehene Fracht Reifen gegen eine Entsorgungsgebühr und filmten dabei mit versteckter Kamera.

Schon am Tag danach setzten sich die Altreifen in Bewegung. Schließlich landeten sie auf einem illegalen Abfalllager in Berlin. Die zuständigen Umwelt- und Kontrollbehörden wollen das betroffene Gelände mittlerweile räumen lassen. Bis heute aber liegen die Reifen dort - ohne fachgerechte Entsorgung.

Giftstoffe gelangen in die Umwelt

Das Problem mit den illegalen Reifenbergen: Giftstoffe können leicht in die Umwelt gelangen. Immer wieder kommt es außerdem zu Bränden. Proben, die die Journalisten auf einem abgebrannten Reifenlager unweit von Leipzig genommen haben, zeigen: Die Reifenreste sind gefährlicher Abfall und gehören auf eine spezielle Deponie. Doch die Verursacher illegaler Ablagerungen werden in vielen Fällen nicht zur Verantwortung gezogen. Entweder sind sie nicht aufzufinden oder mittellos. Die Entsorgung müssen daher häufig die Kommunen oder die Bundesländer übernehmen, finanziert mit Steuergeld. In einigen Fällen sind Schäden in Millionen-Höhe entstanden.

Auf der Suche nach Lösungen für das Reifenproblem konfrontierten die Journalisten in Köln auf Europas größter Reifenmesse "The Tire Cologne" die Hersteller mit ihren Nachhaltigkeitsversprechen. Reifenkonzerne wie Continental oder Michelin werben mit Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein. Mit dem Umweltproblem, das ihre Reifen am Ende ihres Lebenszyklus verursachen, wollen sie bislang aber offenbar wenig zu tun haben. "Es ist kein Problem, das für mich als Industrie wichtig ist", sagt etwa ein Sprecher von Continental im Interview. Andere weichen den Fragen der Journalisten aus. Auch nach schriftlichen Nachfragen bleibt offen, ob und wie die Hersteller konkret Verantwortung für illegal abgelagerte Altreifen und die Entsorgung übernehmen wollen.

Lösung erst in einigen Jahren

Auch hat die Politik sich noch nicht zu einer Lösung durchringen können, um Konzerne stärker in die Pflicht zu nehmen. Ein Fonds, bei dem Hersteller wie beim Grünen Punkt für jede Tonne Reifen eine Gebühr einzahlen, mit der die fachgerechte Entsorgung finanziert wird, wäre ein möglicher Ansatz. Eine vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, dass solch eine Fondslösung sinnvoll wäre.

Auf Anfrage antwortet die Pressestelle des übergeordneten Bundesumweltministeriums, man werte die Ergebnisse des Forschungsvorhabens aus und werde, soweit erforderlich, entsprechende Maßnahmen daraus ableiten. Aber: "Es ist davon auszugehen, dass die Umsetzung in ein gesetzliches Regelungswerk noch einige Jahre andauern wird."

In anderen europäischen Ländern wie Schweden, Belgien und den Niederlanden ist man da schon weiter. Dort müssen die Hersteller Lizenzentgelte für die Altreifenentsorgung zahlen. Entsorgungsfirmen müssen außerdem die Wiederverwendung und das Recycling von Altreifen durch Verwertungsnachweise belegen - anders als in Deutschland, wo Entsorger lediglich einen Gewerbeschein brauchen, um an alten Reifen zu verdienen. Christina Guth von ZARE fordert darüber hinaus eine Pflicht zur Zertifizierung von Altreifenhändlern, um die illegale Entsorgung zu stoppen. "Dann wären fragwürdige Händler weg aus der Branche", sagt sie.

Mitarbeit: Cem Bozdogan

Der Videobeitrag "Illegale Deals - so vergiftet die Reifenmafia die Natur" ist abrufbar unter www.youtube.de/vollbild und in der ARD-Mediathek.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete "Hallo Niedersachsen" am 12. November 2021 um 19:30 Uhr.