Corona-Pandemie Mehr sexuelle Übergriffe bei Onlinedates
Während der Corona-Pandemie ist die Beliebtheit von Dating-Apps gestiegen. SWR-Recherchen zeigen: Es gab auch mehr Meldungen zu sexuellen Übergriffen. Betroffene beklagen, die Dating-Apps reagierten oft nicht auf gemeldete Vorfälle.
Sexuelle Übergriffe bei Treffen, die über Dating-Apps wie Tinder & Co. verabredet wurden, haben in der Corona-Pandemie offenbar zugenommen. Das zeigen Recherchen des neuen investigativen Recherche-Formats VOLLBILD vom SWR. So ergab eine Umfrage unter mehr als 600 Beratungsstellen bundesweit, dass viele der Einrichtungen in den vergangenen beiden Jahren vermehrt Meldungen zu Übergriffen bei Dating-App-Treffen erhalten haben.
Beim Frauennotruf Kiel ließen sich etwa seit Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 mindestens 100 Betroffene sexualisierter Gewalt nach Verabredungen über eine Dating-Plattform beraten. "Vereinzelt hat es diese Fälle schon vor Pandemiebeginn gegeben, in der Konzentration ist es jedoch auffällig, dass seit 2020 ein enormer Anstieg zu beobachten ist", sagt Natalie Wiemers, Beraterin beim Frauennotruf Kiel auf VOLLBILD-Anfrage.
"Corona hat das Ganze einfach nochmal verstärkt und verschärft, da es durch den Lockdown nicht mehr möglich war, sich an neutralen Orten zu treffen", erklärt Emma Leonhardt, Beraterin vom Frauennotruf Mainz. Auch das "Einsamkeitsgefühl" nahm ihr zufolge während der Pandemie zu. "Diese beiden Faktoren haben begünstigt, dass Onlinedating nochmal einen neuen Stellenwert eingenommen hat - und Date Rape leider auch", so Leonhardt.
Übergriffe nicht statistisch erfasst
Die Behörden haben bisher keinen Überblick über das Phänomen: Offizielle Statistiken dazu existieren in Deutschland bisher nicht, wie Anfragen bei verschiedenen Bundesministerien und Polizeien ergeben haben. Auf Anfrage schreibt die Pressestelle des BKA: "Dem Bundeskriminalamt (BKA) liegen hierzu keine Informationen vor. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) werden keine separaten Daten zu Taten ausgewiesen, die über Dating-Plattformen stattgefunden haben."
"Ich finde, es könnte mehr Kommunikation mit Betroffenen stattfinden, die Fälle gemeldet haben": Eine junge Frau berichtet dem SWR von ihren Erfahrungen mit Dating-Apps während der Pandemie.
Interviews mit Betroffenen und Expertinnen legen zudem nahe, dass viele Übergriffe bei Dating-App-Treffen gar nicht zur Anzeige gebracht werden. Die Rechtsanwältin Christina Clemm vertritt als Fachanwältin für Familien- und Strafrecht in Berlin seit mehr als 25 Jahren Opfer sexualisierter Gewalt.
Im Interview mit VOLLBILD sagt sie: "Viele befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird. Viele wissen, dass diese Verfahren relativ mühselig sind für die Betroffenen. Viele haben auch Angst anzuzeigen, weil sie vermuten, dass es dann Rache gibt oder Vergeltung durch die Täter. Viele schämen sich, trauen sich nicht, das zu offenbaren. Und viele brauchen auch einfach relativ lang, um das so richtig für sich zu realisieren, was da eigentlich geschehen ist."
Halten die Dating-Apps ihre Sicherheitsversprechen?
Dating-Apps wie Tinder, OKCupid oder Bumble versprechen auf ihren Webseiten, dass die Sicherheit ihrer Nutzerinnen und Nutzer für sie hohe Priorität habe. Die Datingplattformen geben zwar Sicherheitstipps und raten dazu, sich an neutralen Orten zu treffen und Bekannte über Dates zu benachrichtigen. Nach Übergriffen können Betroffene diese auch über eine Meldefunktion an die Plattformen melden. Doch die App-Anbieter versäumen es teils, auf Beschwerden einzugehen und antworten mitunter nicht auf die Meldungen. Nach Meldungen zu sexualisierter Gewalt lassen die Plattformen Betroffene häufig mit ihren Erfahrungen alleine.
Eine junge Frau, die VOLLBILD über einen sexuellen Übergriff berichtete, sagte, der Täter sei einfach verschwunden und habe das Tinder-Match aufgelöst. Sie habe später online noch zwei weitere Profile mit unterschiedlichen Namen von ihm entdeckt, die sie an Tinder gemeldet habe. "Ich habe die neuen Profile gemeldet, weil ich weiß, wie er mich behandelt hat und ich davon ausgehe, dass das vielleicht ein Muster ist", sagte sie. Sie habe jedoch nie eine Rückmeldung von Tinder erhalten. "Ich finde, es könnte mehr Kommunikation mit Betroffenen stattfinden, die Fälle gemeldet haben", so die junge Frau im Interview. Übergriffige Menschen müssten von den Plattformen entfernt werden, damit sie anderen keinen Schaden zufügen könnten, findet sie.
Selbstversuch zeigt: Betroffene werden allein gelassen
Dass Dating-Apps nicht auf Meldungen Betroffener reagieren, kommt den Recherchen zufolge häufiger vor. Um zu prüfen, wie App-Anbieter mit Meldungen von Übergriffen umgehen, legte das VOLLBILD-Team Dating-Profile auf Tinder, OKCupid und Bumble an und meldete einen vermeintlichen Übergriff an die Apps. Das Ergebnis des Selbstversuchs: Keine der Datingplattformen nahm nach der Meldung direkten Kontakt mit der vermeintlich Betroffenen auf: Tinder verschickte nur eine automatisierte Standardnachricht auf Englisch. Von OKCupid und Bumble erhielt die vermeintlich von einem Übergriff betroffene Journalistin gar keine Rückmeldung.
Tinder sperrte den Account des angeblich übergriffigen Mannes nach drei Tagen. Doch als er sich ein zweites Mal mit einer anderen Handynummer, aber mit den gleichen Fotos und Profildaten anmeldete, erfolgte keine Reaktion. OKCupid sperrte den vermeintlichen Täter-Account innerhalb von 24 Stunden, sein zweiter Account wurde innerhalb einer Stunde gesperrt. Bumble, eine App, die sich als besonders frauenfreundlich vermarktet, unternahm auch nach mehreren Wochen nichts.
"Arbeiten ständig daran, unsere Systeme zu verbessern"
Auf Anfrage erklärte Tinder: "Es macht uns sehr betroffen, wenn jemand, egal wo, in die Hände von Kriminellen fällt und Angst, Missbrauch oder Gewalt erfahren muss. Wir arbeiten ständig daran, unsere Systeme zu verbessern, damit sich alle Nutzer unserer Apps respektiert und sicher fühlen." Zudem erklärt Tinder, dass Mitglieder nun einfacher als früher jemanden melden könnten, mit dem das Match schon aufgelöst wurde.
Bumble antwortete, der geschilderte Verlauf entspreche nicht dem Standard bei der Plattform. Weiter heißt es in der Antwort des App-Anbieters: "Bumbles Standard ist es, dem Opfer oder der/dem Überlebenden zu glauben." OKCupid äußerte sich trotz Nachfrage nicht zu den Vorwürfen.
Einen längeren Video-Beitrag dazu können Sie auf YouTube (www.youtube.com/vollbild) und in ARD-Mediathek sehen, sowie eine Kurzfassung des Berichts im ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ am 26.07.2022 um 21.45 Uhr im Ersten.