Kriegsverbrechen in der Ukraine Berichte über Exekutionen und Vergewaltigungen
Nach Aussagen von ukrainischen Geflüchteten haben russische Soldaten in Vororten von Kiew wehrlose Zivilisten getötet und Frauen vergewaltigt. RBB24 Recherche liegen entsprechende Augenzeugenberichte vor.
Nach Aussagen von ukrainischen Geflüchteten haben russische Soldaten in Vororten von Kiew wehrlose Zivilisten getötet und Frauen vergewaltigt. RBB24 Recherche liegen entsprechende Augenzeugenberichte vor.
Das Gesicht von Tatjana S.* auf dem Display des Smartphones sieht erschöpft aus. Die 46-Jährige hat Schreckliches erlebt. Per Videocall berichtet sie RBB24 Recherche von der Exekution ihres Mannes durch russische Soldaten. Als wir sie erreichen, befindet sie sich irgendwo in der Westukraine. Wo genau will sie nicht sagen. Sie hat noch immer Angst. Hier ist ihre Geschichte:
Grauenhafte Geschichte der Familie S.
Tatjana und Juri S.* lebten mit ihrer zehnjährigen Tochter Alina* in Kiew. Als Ende Februar der Krieg ausbricht, wollen sie raus aus der Hauptstadt. Die Familie holt die 81-jährige Großmutter Olga* ab und fährt in das vierzig Kilometer entfernte Bohdaniwka, ein kleines Dorf nordöstlich von Kiew. Hier hatten sie sich vor einigen Jahren eine Datsche gebaut.
Am 3. März kommen russische Truppen in den Ort. "Die Soldaten haben gewütet und wild um sich geschossen. Sie gingen von Haus zu Haus, verlangten nach Alkohol und beraubten die Leute", erzählt Tatjana S.. Am 9. März sind die russischen Soldaten bei ihrer Datsche angelangt. Es ist abends um 21:30 Uhr, als Schüsse das Küchenfenster treffen. "Wir haben gerufen: 'Wir sind unbewaffnet! Hier sind Kinder!' Daraufhin haben sie uns aufgefordert, die Tür zu öffnen", berichtet Tatjana S. weiter.
Zwei Soldaten mit Maschinengewehren dringen in das Haus ein. Sie befehlen der Familie, in einen zwei Meter tiefen Pumpenschacht zu steigen. Aber die Großmutter ist zu alt, sie schafft es nicht. Die Soldaten lassen sie im Haus und beachten sie nicht weiter. Aber Tatjana, Juri und die Tochter müssen hinunter in den Schacht.
Hingerichtet, weil er keine Zigaretten hatte
"Dann haben sie nach Zigaretten verlangt. Mein Mann antwortete, er habe selbst seit vier Tagen nichts mehr zum Rauchen. Daraufhin befahl der eine dem anderen Soldaten: 'Mach ihn fertig!' Dann hat er meinen Mann zuerst in den Arm und dann in den Kopf geschossen."
Der angeschossene Juri S. bricht zusammen. Er blutet stark. Die Soldaten schieben einen Deckel auf den Schacht und gehen ins Haus. Tatjana S. erinnert sich, wie sie hörten, dass sie das Haus durchsuchten. Mehrere Stunden sitzen Mutter und Tochter eingesperrt in dem Pumpenschacht. Der Atem von Juri S. wird von Stunde zu Stunde schwächer. Gegen 02.30 Uhr in der Nacht stirbt er.
Irgendwann befreien sich Tatjana und Alina S. aus dem Schacht. Die Soldaten sind inzwischen weitergezogen. Im Haus finden sie die Großmutter unversehrt. Die Familie steht unter Schock. Als es dämmert, klopft ein Nachbar. Der Nachbar hatte die Schüsse gehört. Tatjana S. berichtet ihm, was geschehen ist. Der Nachbar nimmt Mutter und Tochter bei sich auf.
In seinem Haus treffen sie andere Opfer, junge Frauen. Eine davon ist Natalya*. Über ihren Fall hat die britische "Times" ausführlich berichtet. Natalya kommt aus einem Nachbarort, bewohnte ein abgelegenes Haus am Waldrand. Sie berichtet, dass Soldaten ihren Mann ermordet haben, nachdem sie eine Camouflage-Jacke in seinem Auto gefunden hatten.
Der Mörder soll gesagt haben: "Ich habe ihn erschossen, weil er ein Nazi war." Natalya* selbst sei von den Tätern mehrfach vergewaltigt worden, während ihr vierjähriger Sohn nebenan im Heizungsraum weinte. Nachdem die betrunkenen Männer von ihr abließen, ergreift sie die Chance, mit ihrem Kind zu fliehen.
"Wir wollten nur weg aus dieser Hölle!"
Am 10. März entschließen sich die Frauen, mit dem Auto Bohdaniwka zu verlassen. Auf Nebenstraßen fahren sie Richtung Browary, dem nächstgrößeren Ort. "Manchmal waren da Schilder, die vor Minen warnten. Aber wir haben trotzdem diesen Weg genommen. Wir wollten nur weg aus dieser Hölle", erinnert sich Tatjana S.
Inzwischen hat die Generalstaatsanwältin der Ukraine Iryna Venediktova mitgeteilt, dass sie Ermittlungen wegen der Ereignisse aufgenommen habe. Die Ermittlungen beziehen sich auf den Fall von Natalya, die Tatjana S. am nächsten Morgen im Haus ihres Nachbarn getroffen hatte. Der Vorwurf lautet auf Mord und Vergewaltigung.
Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mehrere Augenzeugenberichte von Exekutionen von Zivilisten und Vergewaltigungen. Auch RBB24 Recherche konnte in Berlin mit einem Geflüchteten sprechen, der in Irpin beobachtet habe, wie russische Militärangehörige Zivilisten erschossen haben.
Yusuf M. berichtet: "In einem neunstöckigen Haus war unten ein Geschäft. Die russischen Soldaten haben die Tür aufgebrochen und wollten die Lebensmittel plündern. Dann haben sie eine Stimme aus dem Keller gehört", erinnert sich Yusuf M.. "Die Besatzer kamen rein und zerrten die Menschen, es waren acht oder neun Personen, aus dem Keller. Und sie haben alle sofort erschossen."
Experten bestätigen Kriegsverbrechen
Diese Berichte sind Aussagen von Augenzeugen, die noch von unabhängiger Seite überprüft werden müssen. Sollten sie sich bestätigen, dann sind Vergewaltigungen und die Erschießung von Zivilisten ganz eindeutig Kriegsverbrechen, erklärt Professor Kai Ambos, Lehrstuhlinhaber für Internationales Strafrecht und Völkerrecht der Georg-August-Universität Göttingen.
Ambos ist Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag. "In Fällen, wo Zivilisten Opfer von Gewalt sind, sei es direkte Tötung, grausame Behandlung oder sexuelle Gewalt, haben wir ganz klar eine Verletzung des ehernen Grundsatzes des Schutzes der Zivilbevölkerung. Und damit haben wir Kriegsverbrechen", sagt der Völkerrechtler.
Dem stimmt auch Sönke Neitzel, Professor am Militärhistorischen Institut der Universität Potsdam zu. Nach den ersten Kriegswochen habe sich schon im Beschuss von zivilen Infrastrukturen wie Krankenhäusern oder dem Theater von Mariupol gezeigt, dass Zivilisten nicht geschont werden.
"Jedem war klar, dass mit dem Vorgehen der russischen Armee, dass mit dem Beschuss der Städte schon eine Grenze überschritten wurde", so der Historiker. "Nach allem, was wir wissen, sind Zivilisten und zivile Einrichtungen ein Ziel und es gibt eine radikale Tendenz." Noch sei aber nicht klar, welche Dimension diese Einzelfälle von Kriegsverbrechen haben.
Kriegsverbrechen mit Systematik?
Unklar ist aus Sicht der Experten, ob eine Anklage auch auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit lauten könnte. Dafür ist eine gewisse Systematik der Verletzung der Menschenrechte notwendig. "Sie müssten der russischen Regierung unterstellen, dass sie nicht nur einen Eroberungskrieg betreibt, bei dem es das Ziel ist, entweder die ganze Ukraine oder zumindest die Ostukraine Russland zuschlagen zu können", erklärt Völkerrechtler Kai Ambos, "sondern es geht auch darum, die Menschlichkeit zu verletzen durch systematische Verletzung der Menschenrechte als Politik. Und das ist natürlich sehr schwer zu beweisen."
Julia Duchrow, Stellvertreterin des Generalsekretärs vom Amnesty International in Deutschland, sieht in der russischen Kriegsführung Anzeichen für eine Systematik. "Wir haben gesehen, dass das Militär wirklich auch zivile Orte auswählt, auf die die Bomben geworfen werden: Schulen, Kindergärten, Zentren für die medizinische Versorgung wie eine Geburtsklinik."
Mitarbeiter von Amnesty International sammeln inzwischen vor Ort Beweise für Kriegsverbrechen und dokumentieren sie für die Strafverfolgung vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. In Deutschland befassen sich Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst und die Bundesanwaltschaft mit den Vorwürfen.
Für die internationale Strafgerichtsbarkeit könnte auch die Erschießung von Juri S. eine Rolle spielen. Tatjana S. ist mir ihrer Tochter Alina in die Westukraine geflohen. Sie hofft, dass sie bald nach Bohdaniwka zurückkehren kann - damit sie die sterblichen Überreste ihres Mannes bergen und ihn beerdigen kann.
* Namen von der Redaktion geändert