Privatstadt-Bewegung Das libertäre Experiment von Mittelsachsen
In der Kleinstadt Döbeln in Mittelsachsen will eine Gruppe nach NDR-Recherchen Parallelstrukturen zum Staat schaffen - unterstützt von der libertären Privatstadt-Bewegung. Der Landkreis ist alarmiert.
Im mittelsächsischen Döbeln versucht eine Gruppe Bürger offenbar, sich mithilfe genossenschaftlicher Strukturen von staatlichen Institutionen zu entkoppeln. Das zeigen interne Dokumente der Genossenschaft mit der Überschrift "Protokolle", die der Sendung Reschke Fernsehen vorliegen.
"Das folgt einem sehr klaren Ziel, nämlich Strukturen zu zersetzen", sagt der Landrat im Landkreis Mittelsachsen, Dirk Neubauer, "und das hat schon Brisanz." Das Projekt, das vor rund einem Jahr als "Bürgergenossenschaft Mittelsachsen" gegründet wurde, biete laut Selbstauskunft eine "Parallelstruktur für das Zusammenleben als Alternative zu vorhandenen Institutionen".
Parallelstrukturen als Ziel
Die Gruppe hat den Recherchen zufolge enge Verbindungen zu einer Stiftung mit Sitz in Liechtenstein, die Teil eines weltweiten Netzwerks ist: die "Free Cities Foundation" mit ihrem Präsidenten Titus Gebel, Vordenker der libertären Privatstadt-Bewegung. Sein Ziel ist es, Parallelstrukturen zu schaffen, in denen Unternehmen an die Stelle von Staaten treten. Sein "Produkt", wie er es nennt, ist ein Minimalstaat, ein Unternehmen als Dienstleister mit staatlichen Funktionen, das statt Steuern einen Jahresbeitrag erhebt.
Gebel, promovierter Jurist und Gründer der Deutschen Rohstoff AG, hat bereits in Honduras maßgeblich daran mitgewirkt, eine staatsfreie Zone zu schaffen. Er war einer der Autoren des Rechtsrahmens für das Unternehmen Próspera - eine Privatstadt auf einer vorgelagerten Insel, die erst durch eine Verfassungsänderung in Honduras möglich wurde. Nach einem Regierungswechsel erklärt die derzeitige Regierung Próspera für illegal. Zu den Investoren gehört auch der umstrittene Paypal-Mitgründer und Milliardär Peter Thiel.
Rechtslibertäre Initiative beteiligt
Nach den NDR-Recherchen hat bislang die rechtslibertäre Atlas Initiative um den AfD-nahen Autor Markus Krall in vierstelliger Höhe investiert, so bestätigt es die Genossenschaft. Gebel beziffert in einem Schreiben an den NDR das Jahresbudget der Bürgergenossenschaft auf etwa 25.000 Euro.
Laut der Genossenschaft hat auch der Autor Markus Krall in das Projekt investiert.
Die Bürgergenossenschaft Mittelsachsen ist auf die Adresse einer Steuerkanzlei in Döbeln angemeldet. Mitinhaber der Kanzlei, Matthias Gertz, ist auch ehrenamtlich als "Botschafter" der "Free Cities Foundation" aktiv und hat Kontakt zu Gebel.
Gertz sagte im Interview mit dem NDR: "Wir sind geistig sozusagen zusammengekommen. Und dann eben kam er auf mich zu und sagte - Deutschland, Deutschland liegt mir am Herzen. Ich habe die Idee Genossenschaft und so - was meinst du?".
"Eine faktische Privatstadt"
Gebel selbst bezeichnete das Projekt in einem Interview mit dem Mises Institut als Umsetzung aus "lokaler Flamme", eine Idee, "wie man quasi sowas faktisch machen kann, also eine faktische Privatstadt", im Rahmen des Möglichen: "man ist natürlich den staatlichen Regeln nach wie vor unterworfen, aber man kann natürlich in ein paar Bereichen eigene Dinge verwirklichen."
Herrschendes System ist nicht reformierbar. Wir müssen uns selbst kümmern. Kapitalistisch im ursprünglichen Sinne wird die Lösung sein.
Auch in den internen Protokollen der Bürgergenossenschaft wird Gebel zitiert - so wird an dieser Stelle auf sein Buch "Freie Privatstädte" Bezug genommen. Der Anwalt von Gertz, der ebenfalls Titus Gebel vertritt, merkt dazu an, dass hier kein Standpunkt der Bürgergenossenschaft wiedergegeben wird. Die Protokolle seien als "Mitschriften von Unterhaltungen" zu verstehen, nicht als offizielle Protokolle oder dokumentierte Beschlüsse.
Fragwürdige Verbindungen?
Neben der Vernetzung ins libertäre Netzwerk hat die Bürgergenossenschaft offenbar auch im Lokalen fragwürdige Verbindungen. Nach NDR-Recherchen hatte ein Gründungsmitglied Kontakt zur Reichsbürgerszene, die im selben Landkreis aktiv ist. Von der Bürgergenossenschaft heißt es dazu, man habe keine Kenntnisse davon, dass "irgendein anderer Projektbeteiligter irgendetwas mit der Reichsbürgerszene zu tun habe."
In den Dokumenten der Genossenschaft tauchen auch immer wieder Bezüge zu den "Freien Sachsen" auf, eine Partei, die vom Verfassungsschutz in Sachsen als rechtsextremistische Bestrebung eingestuft wird.
Kooperation mit den Freien Sachsen
Auch diese Verbindung bestreitet die Genossenschaft anwaltlich: "Unser Mandant [Matthias Gertz war] bei einer öffentlichen Versammlung der Freien Sachsen in Dresden anwesend, da die Freien Sachsen damals, soweit für unseren Mandanten erkennbar, Themen wie wirtschaftliche Freiheit und Selbstbestimmung verfolgten. Im Anschluss daran wurde jedoch entschieden, dass mit den Freien Sachsen keine direkte Kontaktaufnahme erfolgen soll."
Genossenschaft als bevorzugte Organisationsform
Aus den Mitschriften geht auch hervor, warum ausgerechnet die Form einer Genossenschaft gewählt wurde:
Genossenschaft bietet juristische Freiheitsgrade. Steuerliche Vorteile. Wird auch international gefördert und bildet ein gutes "Kleid”, um "unter dem Radar zu segeln".
Diese Idee kam bei der Bürgergenossenschaft Mittelsachsen, die nach Angaben von Gertz bislang rund 20 Mitglieder hat, gut an. Das Vorhaben beschreibt Gertz im Interview mit dem NDR: "Das wichtigste Anliegen ist, dass wir Verantwortung für uns selbst übernehmen. […] Dass wir im Zweifel uns selbst organisieren, versorgen können, für uns selbst und anderen zeigen, dass das auch geht ohne große staatliche Zwangsorganisation." Die Satzung der Bürgergenossenschaft zeigt, dass diese Selbstorganisation zentrale Bereiche des Lebens umfasst.
a) die Schaffung von Wohnraum und Vermietung an Mitglieder
b) die Errichtung und der Betrieb einer gemeinsamen Einkaufsorganisation
c) die Errichtung und der Betrieb einer gemeinsamen Energieversorgung
d) die Errichtung und der Betrieb von Kindergärten, Schulen und Weiterbildungseinrichtungen
e) die Gewährung von Berufsorientierung bzw. Ausbildungsmöglichkeiten
f) die Durchführung und Organisation von kulturellen, sozialen und informatorischen Veranstaltungen und Maßnahmen;
g) die Errichtung und der Betrieb von Schiedsgerichten;
h) die Errichtung und der Betrieb von Selbsthilfeeinrichtungen, etwa zur Krankheits- und Altersvorsorge.
Macher betonen Rechtskonformität
Titus Gebel betont, dass es bei ihm gewaltfrei und ohne umstürzlerische Absichten zugehe: "Bürgergenossenschaften sind in unseren turbulenten Zeiten ein politisches Friedensangebot. Im Gegensatz etwa zu den Reichsbürgern erfolgt dies ausdrücklich im Rahmen und unter Anerkennung der geltenden Rechtsordnung."
Der Landrat von Mittelsachsen, Neubauer, will das Projekt weiter beobachten - Handlungsoptionen hat er allerdings wenige, sofern nicht "strafrechtlich relevante Tätigkeiten" nachzuweisen sind. "Aber ich finde, darum geht es gar nicht. Ich finde, wir müssen von Anfang überhaupt erst mal zu gucken, warum kann sowas eigentlich Leute begeistern? Und das ist der Punkt, der wehtut."
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