Corona-Krise Deutlich weniger Facharztbesuche
Während der Corona-Krise haben nach NDR-Recherchen deutlich weniger Menschen Facharzttermine wahrgenommen als vorher - mit gefährlichen Folgen: Krankheiten werden verschleppt, Heilungschancen sinken.
In der Hochphase der Corona-Pandemie in Deutschland ist die Zahl der Facharztbesuche massiv zurückgegangen. In einer bundesweiten Umfrage des NDR äußerten Vertreter von Berufsverbänden, Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen die Sorge, der Ausfall von Terminen könne zu teils lebensbedrohlichen Verschlechterungen der Gesundheit der Patienten geführt haben.
Kardiologen und Onkologen melden für ihre Patienten, die in der Regel zu einer Risikogruppe gehören, Rückgänge der Termine zwischen 30 und 50 Prozent. Zahnärzte verzeichnen sogar ein Minus von bis zu 80 Prozent. Bei vielen Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen nahmen die Anfragen laut der NDR-Umfrage um bis zu 50 Prozent ab.
Krankheitsverschlimmerungen befürchtet
Besonders stark war der Rückgang Mitte März bis Anfang Mai, als viele den Gang zum Arzt aus Sorge über eine Corona-Infektion mieden. Alle Vereinigungen wiesen darauf hin, dass es sich bei den Zahlen nur um Schätzungen handele, bis das laufende Quartal abgerechnet sei. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) befürchtet, dass sich Krankheiten durch den Ausfall von Terminen verschlimmert haben könnten.
Die Kardiologin Kristina Brinkmann aus Hamburg erzählt, dass ihre Praxis etwa 30 Prozent weniger Patienten als im gleichen Zeitraum des Vorjahres gehabt habe. Oft seien sie einfach nicht erschienen - wie zum Beispiel ein junger Mann, der sich vor dem Lockdown mit Herzbeschwerden vorgestellt hatte, seinen Folgetermin aber nicht wahrnahm.
Die Kardiologin Karin Brinkmann sorgt sich um einen Patienten, der einen Folgetermin verstreichen ließ.
"Von dem Patienten haben wir jetzt leider erfahren, dass er tatsächlich mit einem schweren Herzinfarkt, der auch einen Herzstillstand beinhaltet hat, auf einer Intensivstation in einem Krankenhaus liegt", sagt Brinkmann. Der Ausgang des Falls sei unklar. "Das ist ein besonders tragischer Fall, der sicherlich in seinem Ausgang oder in seiner Entwicklung durchaus anders hätte beeinflusst werden können, wenn der Patient gekommen wäre."
Überweisungen nicht wahrgenommen
"Patienten suchten möglicherweise nicht den Hausarzt auf oder erhielten zwar eine Überweisung des Hausarztes zum Onkologen, nahmen diese aber nicht wahr", sagte der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen dem NDR. "Patienten, die in der Hochphase der Krise ihre Termine abgesagt haben, werden jetzt als Notfälle angemeldet", so Heribert Brück vom Bundesverband Niedergelassener Kardiologen (BNK).
Heilungschancen gefährdet
Der Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen sieht einige Krankheitsbilder, die keinen Aufschub in Diagnostik und Therapie erlaubten. Dies betreffe insbesondere akut verlaufende Erkrankungen wie spezielle Leukämien oder Tumore, die zu erheblichen Schäden führen könnten, erklärte der BNHO-Vorsitzende Wolfgang Knauf. "Nicht zu vergessen: ein auffälliger Tastbefund in der Brust, der unbedingt rasch abgeklärt werden muss. Im Falle eines Brustkrebses würde bei einer zeitlichen Verschleppung möglicherweise die Chance auf Heilung verspielt."
Nicht alle Fachärzte von Terminstau betroffen
Die Kassenärztlichen Vereinigungen und Berufsverbände rufen dazu auf, Facharztbesuche jetzt unbedingt wieder wahrzunehmen - trotz Terminstaus in manchen Praxen. Denn nach den Lockerungen der Beschränkungen füllen sich die Terminkalender der Ärzte inzwischen wieder - und viele Patienten holen versäumte Untersuchungen nach. Die Praxen der Kardiologen arbeiten laut ihrem Verband bereits am Limit. Deshalb müssten jetzt vor allem Hausärzte eine Vorauswahl von Patienten nach Dringlichkeit treffen, so der BNK.
Hämatologen und Onkologen sehen dagegen keine Engpässe. Die Kassenärztlichen Vereinigungen in Bund und Ländern empfehlen, Termine beizeiten zu vereinbaren, sehen derzeit aber außer etwa bei Psychotherapeuten keine größeren Kapazitätsengpässe. Auch die Kassenzahnärzte äußerten sich in der NDR-Umfrage zuversichtlich, die steigende Nachfrage bewältigen zu können.