Viele Menschen steigen am Alexanderplatz in Berlin in eine S-Bahn ein und aus.
Exklusiv

Armutsdelikte Ins Gefängnis für Fahren ohne Ticket

Stand: 18.05.2022 05:00 Uhr

Wer in Deutschland mehrfach ohne Fahrschein erwischt wird, muss mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Jährlich werden Zehntausende Menschen verurteilt, Tausende müssen in Haft, wie eine bundesweite Abfrage von NDR und BR zeigt.

Von Melanie Marks (BR), Svea Eckert (NDR) und Markus Grill (NDR)

Eigentlich säße er noch im Gefängnis. Gut acht Monate sollte Peter O. absitzen, weil er mehrmals erwischt wurde, als er ohne gültigen Fahrschein fuhr. In Deutschland ist das eine Straftat, beschrieben in Paragraf 265a: Wer die Beförderung durch ein Verkehrsmittel erschleicht, kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden, heißt es darin. Eine Initiative kaufte den 42-Jährigen nach sechs Monaten gegen Zahlung einer Geldstrafe von 1225 Euro frei.

So wie O. ging es 2019, 2020 und 2021 Tausenden Menschen in Deutschland. Das zeigt nach Recherchen von NDR und des BR-Politikmagazins Kontrovers eine Abfrage unter den Justizministerien der Länder. Die Menschen wurden entweder direkt zu einer Haftstrafe verurteilt - oder sie bekamen eine Geldstrafe, die sie nicht bezahlen konnten. Ersatzweise mussten sie deswegen ins Gefängnis.

Wenn Menschen fürs Schwarzfahren ins Gefängnis müssen

Svea Eckert, NDR/Melanie Marks, BR, Mittagsmagazin

Hohe Dunkelziffer

Nicht alle Bundesländer erheben die genaue Zahl der in Haft sitzenden Menschen gleichermaßen, deswegen bleibt eine Dunkelziffer. Die Verurteilungen aufgrund "Erschleichens von Leistungen" werden gleichmäßiger erfasst: 2019 wurden mehr als 46.000 Menschen verurteilt, im Corona-Jahr 2020, als weniger Bahn gefahren wurde, waren es fast 40.000 Menschen.

Vor allem die regionalen Unterschiede sind groß. Rheinland-Pfalz und Thüringen stechen mit rund 300 Gefangenen aufgrund von Paragraf 265a heraus, gefolgt von Sachsen. Der Paragraf umfasst zwar auch andere Taten, wie zum Beispiel das Umgehen eines automatischen Drehkreuzes im Schwimmbad, doch oftmals, so heißt es in einigen Antworten der Justizministerien, sitze der Großteil der Menschen in Haft, weil sie ohne gültiges Ticket fuhren.

Ein Armutsdelikt

Bei Peter O. gerät das Leben vor gut zehn Jahren nach einer Nierenerkrankung aus den Fugen: Mehrfach in der Woche muss er zur Dialyse, er findet keinen Job, rutscht in eine Depression, ist über die Jahre immer wieder obdachlos. Um zur Dialyse oder in die Notunterkünfte zu kommen, fährt er in München oft mit der S-Bahn, oftmals ohne Ticket, das er sich nicht leisten kann. 2018 wird O. zehnmal erwischt, jedes Mal auf einer Kurzstrecke. Der Richter verurteilt ihn zu insgesamt 4050 Euro Geldstrafe, die er ebenfalls nicht zahlen kann. Er kommt in Haft.

Der Fall von O. sei typisch, sagen Kriminologen. Fahren ohne gültigen Fahrschein gilt als Armutsdelikt. Grundsätzlich haben zwar alle Verurteilten die Möglichkeit, die Geldstrafe abzuarbeiten, wenn sie sie nicht bezahlen können. Dafür haben die Länder sogenannte "Haftvermeidungsprogramme" geschaffen, die dabei helfen sollen, dass Menschen nicht wegen Bagatellstrafen ins Gefängnis müssen.

Doch oftmals, so führt der Kriminologische Dienst aus Nordrhein-Westfalen in einer Analyse aus, seien gerade die Menschen, die aufgrund von Fahren ohne Fahrschein verurteilt würden, bei Haftantritt schlicht "verarmt, krank, sozial ausgeschlossen und im strafrechtlichen Sinn nicht gefährlich" - viele von ihnen also nicht ohne weiteres zum Arbeiten in der Lage. Zudem zeigt die Recherche von BR und NDR, dass mancherorts schlicht die Plätze fehlen, damit Verurteilte ihre Strafe abarbeiten können.

Paragraf 265a auf dem Prüfstand

Schon zu Beginn der Legislaturperiode kündigte die Ampel-Koalition die Überarbeitung des umstrittenen Paragrafen an. Aus dem Bundesjustizministerium heißt es, der Paragraf 265a werde derzeit geprüft. Zur Debatte steht etwa, ob das Fahren ohne gültigen Fahrschein zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden kann. Dann wären Menschen zum Beispiel nicht mehr vorbestraft, zudem würden Strafzahlungen wesentlich geringer ausfallen. Allerdings: Wer im Fall einer Ordnungswidrigkeit sein Bußgeld nicht zahlt, muss ebenfalls in Haft - und ersetzt in diesem Fall sein Bußgeld nicht dadurch.

Wie sehr vor allem Haftstrafen Menschen aus der Bahn werfen können, zeigt der Fall von Peter O.: "Jedes Mal, wenn ich mein Leben wieder halbwegs in Ordnung hatte, kam ich wieder ins Gefängnis", sagt der 42-Jährige, der immer wieder aufgrund von Ticketschulden Monate absitzen musste. Er habe das Gefühl, dadurch über Jahre nicht auf einen "grünen Zweig" zu kommen. Wahrscheinlich hätte sogar seine Krankenkasse die Fahrtkosten übernommen, "aber ich wusste einfach nicht, wen ich noch fragen kann", sagt er. "Ich war einfach überfordert."

Auch der Verbund der Strafvollzugsbediensteten äußert sich kritisch: Da kämen Personen in Gefängnisse, die da nicht reingehörten, merkt der Vorsitzender René Müller an. Man sei ohnehin überlastet und könne in so kurzer Zeit keine Resozialisierung ermöglichen. Auch die Leiterin der JVA Frankenthal, Gundi Bäßler, kritisiert: "Wenn jemand eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzt, dann fällt draußen auch viel auseinander." Manche verlören ihren Job, ihre Wohnung, das soziale Umfeld.

Millionenkosten für die Steuerzahler

Ein Hafttag kostet den Steuerzahler zwischen 126 und 218 Euro, so steht es in einer aktuellen Kleinen Anfrage der Linken an die Bundesregierung. Gerade bei Delikten, die sich im Bagatellbereich bewegen, sei das für den Steuerzahler extrem teuer, sagt Arne Semsrott. Er hat, gemeinsam mit Mitstreitern, die Initiative "Freiheitsfonds" gegründet. Mit Hilfe von Spenden konnte die Geldstrafen von inzwischen rund 400 Gefangenen beglichen werden. Damit habe man dem Staat knapp 4,3 Millionen Euro gespart, führt er aus.

Semsrott hofft auf eine schnelle Überarbeitung von Paragraf 265a. Auf Anfrage von BR und NDR wollten sich zahlreiche Verkehrsbetriebe nicht äußern. In der Vergangenheit hieß es oftmals, würde Paragraf 265a abgeschafft, würde dem Fahren ohne gültigen Fahrschein Tür und Tor geöffnet.

"Mit dem Paragrafen ist niemanden geholfen", sagt Semsrott, "den Gefangenen nicht, weil sie ohnehin gestraft sind, den Steuerzahlern nicht und der Justiz auch nicht". Die Hinweise auf die betroffenen Gefangenen, deren Geldstrafe beglichen werden könne, kämen übrigens immer häufiger von Justizbeamten. Sie würden die Initiative bitten, Gefangene frei zu kaufen.

Melanie Marks, BR/Svea Eckert, NDR, 18.05.2022 06:29 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 18. Mai 2022 u.a. um 06:08 Uhr und 11:08 Uhr.