Verschollene Fundstücke Auf der Spur der indigenen Schädel
Im Jahr 1884 besuchte der berühmteste Arzt Kanadas sein Vorbild Rudolf Virchow - und brachte ihm vier Schädel von Ureinwohnern mit. Nun fordern Indigene die Rückgabe. WDR, NDR und SZ haben die Schädel wiedergefunden. Von M. Grill und D. Bruser.
Im Jahr 1884 besuchte der berühmteste Arzt Kanadas sein Vorbild Rudolf Virchow - und brachte ihm vier Schädel von Ureinwohnern mit. Nun fordern Indigene die Rückgabe. WDR, NDR und SZ haben die Schädel wiedergefunden.
In Kanada ist William Osler eine Berühmtheit. Nach ihm sind Universitäten, Schulen und sogar mehrere Krankheiten benannt. Der Arzt und Wissenschaftler aus dem 19. Jahrhundert hat 1884 sein ebenso berühmtes deutsches Vorbild Rudolf Virchow besucht. In einem Brief berichtet Osler von diesem Besuch und schreibt, dass er Virchow vier Schädel von Indigenen in Kanada mitgebracht habe.
"Nicht der herzliche Dank, auch nicht die fröhliche, freundliche Begrüßung erfreute mich so sehr wie die prompte Identifizierung des Schädels, den ich mitgebracht hatte, und seine schnelle Skizze der Schädelcharaktere des nordamerikanischen Indianers", schreibt Osler.
Der Arzt und Wissenschaftler Virchow gilt als Mitbegründer de Anthropologie.
Jahrzehntelang im Depot verschollen
Mehr als 130 Jahre nach dem Besuch Oslers in Berlin hat eine gemeinsame Suche von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) zusammen mit der größten kanadischen Tageszeitung, dem "Toronto Star", die Schädel wieder zum Vorschein gebracht. Sie lagern heute in einem hellgrauen Pappkarton im Berliner Vorort Friedrichshagen im Depot der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU).
Mehr als 10.000 Schädel, an denen früher stammesgeschichtliche Forschungen betrieben wurden, befinden sich hier. Die beiden kanadischen Ärzte Philip Berger und Nav Persaud hatten vor zwei Jahren begonnen, nach den vier indigenen Schädeln zu suchen.
Mögliche Rückgabe politisch umstritten
Der Umgang mit menschlichen Überresten ist ein hochpolitisches Thema. Nach der UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker von 2007 haben diese das Recht auf Rückgabe. Auch der Deutsche Museumsbund hatte sich 2013 dazu bereit erklärt und empfiehlt, entsprechende Anfragen "ernst zu nehmen und mit der notwendigen Sorgfalt zu behandeln."
In Berlin-Mitte, rund einen Kilometer vom Reichstag entfernt, befindet sich heute das Archiv der altehrwürdigen Berliner Anthropologen-Gesellschaft. Hier wacht der Ethnologe Nils Seethaler, 39, ehrenamtlich über die Akten, Karteikarten und Bände. Für Seethaler ist klar: Wenn Osler diese Schädel Virchow geschenkt hat, dann hat Virchow sie auch inventarisiert. Dennoch könnten sie inzwischen verschütt gegangen sein. "Wir haben ja große Kriegsverluste erlitten", sagt Seethaler. Erst in der DDR habe die Schädelsammlung und das Archiv wieder eine gewisse Aufwertung erfahren.
Ethnologe Seethaler verwaltet das Archiv der Berliner Anthropologen-Gesellschaft.
Kein ungewöhnliches Gastgeschenk
Dass ein aufstrebender Arzt aus Kanada wie Osler damals Schädel als Gastgeschenke mitgebracht habe, sei nicht ungewöhnlich. "Virchow war außerordentlich gut vernetzt und hat häufig Schädel bekommen", sagt Seethaler. Die meisten Forscher, die sich mit diesen Schädeln im Kaiserreich beschäftigt hätten, seien auch nach heutigen Maßstäben keine Monster oder Rassisten gewesen. "Die wollten erfahren, wo der Mensch herkommt."
Neben Seethalers Schreibtisch steht ein etwas angestaubter Tischcomputer, mit einem Zugang zur Datendank "Augias", die die Bestände der BGAEU enthält. Seethaler demonstriert, dass die Suche nach "Osler" keine Treffer erzeugt. "Canada" führt zu sechs Treffern, einer davon führt zu einem Verzeichnis mit Schädeln aus aller Welt. Seethaler notiert sich die Archivnummer, geht in einen Nebenraum und kommt mit einem länglichen, braunen Buch zurück. Die Aufschrift lautet "Schädel der Virchow Smlg."
In dem Buch sind die inventarisierten Schädel aufgeführt.
Aktenspur setzt sich fort
In altertümlicher, geschwungener Handschrift finden sich darin Angaben zu mehr als Tausend menschlichen Überresten. Nach 22 Seiten stößt man auf einen Eintrag, der zu den Schädeln aus Kanada passen könnte: Es sind die Nummern 1507, 1508, 1509 und 1510. Hier steht: "Skull of ancient Indian. Dug up near Caledonia on the Grand River (Ontario) (upper Canada/Dr. R. Bell, Geol. Survey Ottawa)."
In den Aufzeichnungen Oslers steht, dass er die Schädel von dem Geologen Robert Bell erhalten habe. Seethaler ist überrascht. Er geht noch einmal ins Nebenzimmer und kommt mit einem Karteikasten zurück, der die Aufschrift "Nord-Amerika" enthält. Die Karteikarten sind sortiert, die Nummern 1507 bis 1510 sind vorhanden. Auf allen vier Karten steht "Dr. R. Bell" als Sammler, alle tragen das Datum 20. März 1884, also jenes Jahr, in dem Osler Virchow besucht hat. Und alle geben als Herkunftsort Kanada und "Indianer" an.
Die Karteikarten bestätigen die Herkunft der Schädel.
Indigene verlangen Rückführung
In Kanada kümmert sich Rick Hill seit den 1970er Jahren um die Rückführung menschlicher Überreste. Er gehört den "Six Nations" an, die die Indigenen repräsentieren. Hill sagt, dass es zu ihrer Tradition gehöre, die Toten so respektvoll zu behandeln, als ob sie noch lebten. Es sei in jedem Fall eine große Entweihung, einen Toten von seiner Begräbnisstätte zu entfernen, Nummern auf seine Knochen zu schreiben und ihn in einem Karton in einem Regal in Berlin zu deponieren.
"Der Schädel eines Menschen repräsentiert die spirituelle Energie einer Person", sagt Hill. "Es hört sich vielleicht etwas seltsam an, aber unsere Vorfahren, die in der Erde begraben sind, helfen, dass das Korn jedes Jahr reift." Einen Vorfahren nicht in der Erde zu bestatten, bedeute einen "kosmischen Bruch". Sobald er davon erfahre, müsse er sich darum kümmern, dass die menschlichen Überreste wieder nach Kanada kommen.
Einen Ratschlag hat er noch: Sollte man die Schädel zu Gesicht bekommen, müsse man leise mit ihnen sprechen, ihnen erklären, weshalb man hier sei und dass man ihr Lage bedauere.
Sammlung nur ehrenamtlich betreut
Am Müggelsee liegt das Depot der Berliner anthropologischen Gesellschaft, für die Öffentlichkeit ist der Ort nicht zugänglich. Hier kümmert sich die Kustodin Barbara Tessmann um die Schädel der Rudolf-Virchow-Sammlung. Sie hat den kanadischen Ärzten damals gesagt, dass man zu Osler nichts finde.
Kustodin Tessmann kümmert sich in ihrer Freizeit um die Rudolf-Virchow-Sammlung.
"Ich betreue die Sammlung ehrenamtlich und mache das alles in meiner Freizeit", sagt Tessmann, "da stelle ich mich nicht stundenlang hin und mache Kisten auf und gucke nach, was drauf steht. Das kann keiner erwarten." Nach dem Namen "Bell", den Berger und Persaud damals in ihrer Mail ebenfalls angegeben hatten, wie sie belegen können, hatte sie offenbar nicht gesucht.
Bei den "Kisten" im Depot handelt es sich um hellgraue Kartons, eine Spezialanfertigung, die in langen Regalen aufgereiht sind. Bis zu fünf Schädel liegen in einer Kiste. Tessmann sagt, dass man mit Hilfe des Namens Bell die Schädel finde. Sie öffnet den Karton mit den vier Schädeln aus Kanada, jeder liegt in einer weißen Papiertüte.
Im Inventarbuch finden sich die Nummern der Schädel.
Die Schädel sind noch da
Als sie die Schädel entnimmt, sieht man, dass auf alle in schwarzer Schrift die Inventarnummer geschrieben wurde. Keiner der Schädel hat einen Unterkiefer. Auf zwei Schädeln ist auf der linken Seiten ebenfalls in schwarzer Schrift notiert, dass es sich um "Indians" handle und wo sie ausgegraben wurden. "Die Knochenoberfläche ist schlecht erhalten, weil sie aus dem Boden kommen", sagt Tessmann. "Wie alt sie sind, wissen wir nicht."
Rick Hill hat mit den Informationen aus Berlin jetzt für die Chiefs der Six Nations einen Antrag auf Rückführung der Schädel entworfen. Wie die BGAEU damit umgehen wird, ist unklar. Barbara Tessmann sagt, dass sie bisher über Rückgaben ausschließlich mit Regierungen verhandelt haben, "damit es da einfach keine Schwierigkeiten gibt". Möglicherweise handelt es sich bei den Schädeln aus Kanada aber um archäologisches Material. "Und archäologisches Material geben wir in der Regel nicht zurück."