Gefährder Warum die Abschiebepläne kaum einzuhalten sind
Die Koalition will reguläre Migration nach Deutschland erleichtern und zugleich eine "Rückführungsoffensive" starten. Vor allem Gefährder sollen das Land verlassen. Doch immer weniger kommen für eine Abschiebung infrage.
Horst Seehofer ist an dem Vorhaben gescheitert. Als Bundesinnenminister wollte der CSU-Politiker einläuten, dass mehr abgelehnte Asylbewerber die Bundesrepublik verlassen. Das Gesetz, das er dafür präsentierte, hieß "Geordnete-Rückkehr-Gesetz". Der Effekt? Kaum bemerkbar. Die Zahlen blieben auf niedrigem Niveau.
Seit einem Jahr ist Seehofer nun kein Minister mehr. Doch die Idee lebt weiter. Die Ampel-Regierung spricht im Koalitionsvertrag zwar von einem "Neuanfang" der Migrations- und Integrationspolitik. Man will mehr "reguläre Migration" ermöglichen. SPD, Grüne und FDP versprechen aber gleichzeitig eine "Rückführungsoffensive": Insbesondere Gefährder und Straftäter sollen abgeschoben werden, heißt es im Koalitionsvertrag.
Tatsache aber ist: Es wird für die Regierung schwierig, ihre Abschiebe-Pläne einzuhalten. Nach Informationen von WDR und NDR sieht man auch in Regierungskreisen auf absehbare Zeit kaum Chancen für eine erfolgreiche Umsetzung der "Rückführungsoffensive". Der Grund: Viele Gefährder oder relevante Personen sind Staatsangehörige von Ländern, mit denen es aktuell kaum oder gar keinen diplomatischen Austausch gibt und deshalb auch nicht zum Thema Rückführungen.
Halbierung der Rückführungen erwartet
Wie die Bundespolizei zuletzt laut Teilnehmerkreisen im Bundestag erklärte, beschäftigen sich die Experten im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) derzeit mit 607 vollziehbar ausreisepflichtigen Gefährdern oder relevanten Personen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Syrer, Staatsbürger Russlands, vor allem aus Tschetschenien, oder Afghanen. Auf Nachfrage erklärte das Innenministerium, dass Rückführungen in diese Länder derzeit ausgesetzt sind.
Die neuen Zahlen zeigen, dass der Kreis von potenziell gefährlichen Personen kleiner wird, die überhaupt für eine Abschiebung infrage kommen. Auch die tatsächlichen Ausreisen von Personen innerhalb dieser Gruppe sanken zuletzt. Laut Bundesinnenministerium wurden im Jahr 2021 noch 22 Gefährder und sechs relevante Personen rückgeführt. Bis Ende August 2022 waren es im laufenden Jahr dann lediglich fünf Gefährder und eine relevante Person.
Gefährder sind Personen, denen man jederzeit eine schwere Straftat zutraut. Relevante Personen können Führungspersonen oder Unterstützer sein. Der Trend deutet also auf eine Halbierung der Rückführungen hin - und dass trotz der 2022 verbesserten Corona-Lage, die Abschiebetransporte eigentlich erleichtert.
Verlässliche Statistiken zu abgeschobenen Straftätern wiederum gibt es nicht. Das liegt auch an der schwierigen Definition: Meint die Koalition Personen, die aktuell noch in Haft sind? Oder Personen, die irgendwann einmal kriminell waren?
Ungeklärte Identitäten
Wer für die niedrigen Zahlen verantwortlich ist, ist nicht so einfach zu klären. Die eigentliche Zuständigkeit für Rückführungen liegt bei den Bundesländern. Es gibt aber verschiedene Akteure, die an dem Prozess beteiligt sind. Im sogenannten Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR) arbeiten beispielsweise Bund und Länder zusammen, um Sammelabschiebungen zu organisieren oder koordiniert auf Herkunftsländer zuzugehen, die sich weigern, Staatsangehörige anzuerkennen oder Passpapiere auszustellen.
Im Koalitionsvertrag steht, dass der Bund die Länder bei Abschiebungen künftig stärker unterstützen will. Darauf pochen auch mehrere Länder. So weist Niedersachsen darauf hin, dass der Bund "originär zuständig für Kooperationsverhandlungen" mit den Herkunftsstaaten sei. Und genau hier liegt eine der größten Herausforderungen.
Hört man sich in den 16 Bundesländern um, erfährt man von vielen Bemühungen, aber auch von großen Hürden. Als wichtigstes Abschiebehemmnis gelten ungeklärte Identitäten. Besonders schwierig wird es, wenn Personen keine Papiere haben und der mutmaßliche Herkunftsstaat nicht oder nur schlecht kooperiert. Genau das passiert aber oft. Sachsen-Anhalt etwa berichtet von Staaten, die ihren mutmaßlichen Bürgern zwar Passersatzpapiere besorgen. Diese seien dann aber lediglich für einen bestimmten Tag und einen Flug gültig. Fällt dieser aus, geht die Prozedur von vorn los.
Ausreise in Drittstaaten
Weigert sich ein Land, einen eigenen Staatsbürger aufzunehmen, gibt es eine weniger bekannte Alternative: Die Person wird dann nicht in das Herkunftsland abgeschoben, sondern reist in einen Drittstaat aus, der sich zur Aufnahme bereit erklärt hat. Fast alle Bundesländer haben das in den vergangenen Jahren gemacht. So lief es zum Beispiel bei einem syrischen Gefährder, der in Deutschland einen Anschlag angekündigt hatte. Von Sachsen-Anhalt reiste der Islamist schließlich mit seiner eigenen Zustimmung in den Sudan aus. Das Problem war dann jedoch, dass der Fall öffentlich bekannt wurde und Proteste vor Ort hervorrief. Der Sudan soll nicht erfreut gewesen sein, heißt es in Sicherheitskreisen.
Um Informationen über Gefährder so schnell wie möglich zusammenzutragen, haben mehrere Bundesländer sogenannte Fallkonferenzen eingerichtet. Dort beraten etwa Sicherheits-, Ausländerbehörden, Justiz und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemeinsam. In Baden-Württemberg gibt es den "Sonderstab Gefährliche Ausländer" des Justizministeriums. Auch andere Länder wie Hessen (Gemeinsame Arbeitsgruppen Intensivtäter), Nordrhein-Westfalen (Sicherheitskonferenz), Brandenburg oder Bayern (AG BIRGit, Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährdern aus dem Bereich des islamistischen Terrorismus/Extremismus) berichten von solchen Fallkonferenzen.
Abschiebungen nach Afghanistan verworfen
Die Abschiebe-Probleme sind für die Ampel risikoreich, denn umso schwieriger könnte es werden, Rückhalt in der Bevölkerung für den geplanten einfacheren Zuzug für ausländische Arbeitskräfte oder die Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu bekommen. Die steigenden Einreisezahlen verschärfen den Konflikt zusätzlich. Viele Kommunen sind nach eigenen Angaben zudem durch die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine an der Belastungsgrenze.
In diesen Wochen beraten Koalitionsvertreter in langen Sitzungen, um die Streitpunkte des nächsten Migrationspakets zu klären. Eine Einigung soll schon bald präsentiert werden. Personen, die mit den Verhandlungen vertraut sind, erwarten beim Thema Rückführung keine großen Veränderungen: Abschiebungen nach Afghanistan wurden diskutiert, aber wieder verworfen.
Für freiwillige Ausreisen soll es demnächst jedenfalls mehr finanzielle Mittel geben, berichtet das Bundesinnenministerium. Mit Indien werde zudem derzeit ein "Migrations- und Mobilitätsabkommen" finalisiert. Und in Kürze werde der im Koalitionsvertrag vereinbarte Sonderbevollmächtigte für "partnerschaftliche Migrationsabkommen" ernannt.