Corona-Krisenstab der Bundesregierung Im Kaufrausch
Das Verwaltungsgericht Berlin hatte die Bundesregierung dazu verurteilt, die Protokolle des Corona-Krisenstabs herauszugeben. Nach Recherchen von NDR, WDR und SZ zeigen sie einen maßlosen Einkauf von Desinfektionsmitteln und eine fragwürdige Bevorzugung der Türkei.
Im Juli 2020 hat die Türkei massiv bei der Bundesregierung dafür geworben, die Reisewarnung für mehrere touristische Gebiete in der Türkei aufzuheben. Sie traf damit auf offene Ohren bei Innenminister Horst Seehofer (CSU) und im Kanzleramt von Angela Merkel (CDU). Das geht aus den Protokollen des gemeinsamen Corona-Krisenstabs von Innenministerium und Gesundheitsministerium hervor.
Die Protokolle sind als "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Mit Verweis darauf weigerte sich die Bundesregierung lange, die Protokolle herauszugeben. Das Onlineportal Frag-den-Staat verklagte die Regierung deshalb vor dem Verwaltungsgericht Berlin und bekam im Juli 2023 in einem Urteil Recht.
Doch auch danach verzögerte die Bundesregierung die Herausgabe der Protokolle. Erst als ihr im März 2024 Zwangsvollstreckungsmassnahmen drohten, erklärte sich das inzwischen von Nancy Faser (SPD) geführte Innenministerium bereit, die Protokolle auszuhändigen. NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung erhielten die Protokolle von Frag-den-Staat zur Auswertung, sie stehen ab heute für alle einsehbar auf der Website des Portals.
"Gesundheitsschutz vor kommerziellen Interessen"
Am 26. Februar 2020 traf sich der Corona-Krisenstab der Bundesregierung zu seiner ersten Sitzung. Tags darauf stellten der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) das neue Gremium der Öffentlichkeit vor. Aufgabe, so Seehofer, sei "der Schutz der Bevölkerung" und "Infektionsketten nach Deutschland einzudämmen". Spahn versichert, "das oberste Interesse gilt dabei dem Gesundheitsschutz vor kommerziellen Interessen".
Fünf Monate später scheinen diese Ziele bereits aus dem Blick zu geraten. "Die Türkei hat in Minister-Gesprächen massiv für eine Aufhebung der Reisewarnung geworben", heißt es im Krisenstabsprotokoll vom 7. Juli 2020. Das Innenministerium ergänzt, dass die Türkei den Wunsch auch "auf Ministerebene platziert" habe und Seehofer dem "grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber steht".
Die Fachebene im Gesundheitsministerium hält zwar dagegen, dass dies "Unsicherheiten" mit sich bringen würde und warnt vor den lediglich "geringen Testkapazitäten" in der Türkei. Doch das Innenministerium "erinnert" daran, dass "Seehofer einer Regionalisierung aufgeschlossen" sei. Das Auswärtige Amt warnt vor einem "Domino-Effekt", weil auch andere Länder Ausnahmeregelungen wünschen. Es berichtet aber gleichzeitig, dass im Kanzleramt die Wünsche der Türkei "begrüßt werden".
"Die Lösung wird auf Fachebene weiterhin zurückhaltend betrachtet", heißt es im Protokoll vom 14. Juli 2020. "Falls aber politische Entscheidung für Regionalisierung fällt", dann sollte es neben einem "strengen Hygienekonzept" unter anderem "auf die Kerndestinationen des deutschen Tourismus" begrenzt werden.
Corona-Ausbrüche mit Türkei-Bezug
Anfang August hebt die Bundesregierung tatsächlich die Reisewarnungen für vier türkische Tourismusregionen auf, wenn die Reisenden vor Rückkehr nach Deutschland getestet werden. Die Türkei sicherte das zu. Doch in den Lagebildern des Krisenstabs finden sich in den Wochen danach immer wieder Hinweise gerade auf Einschleppungen aus der Türkei. So meldet Offenbach etwa Dutzende Fälle.
"Eine wichtige Rolle spielen dabei Reiserückkehrer aus Risikogebieten in der Türkei, Bosnien, Serbien oder Montenegro", heißt es im Lagebericht. Ausbrüche mit Türkei-Bezug werden im August 2020 auch aus dem Landkreis Ludwigslust-Parchim, aus Duisburg und Berlin gemeldet. In den Protokollen berichtet das Gesundheitsministerium über Fälle, "bei denen in der Türkei mit negativem Ergebnis getestet wurde und nachträglich, beispielsweise auch in Schulen, dieselben Personen positiv getestet wurden."
Im Oktober wird im Krisenstab klar, dass die Türkei "entgegen dem WHO-Standard" bei ihrem Tests nur solche Personen als coronainfiziert zählt, die auch Symptome aufweisen. Ende Oktober zieht der Krisenstab dann die Notbremse und hebt die Ausnahmeregelung für die Türkei mit Wirkung zum 9. November wieder auf. Horst Seehofer reagierte auf Fragen zu seinem Vorgehen nicht, das Innenministerium teilte auf Anfrage lediglich mit, dass die Bundesregierung "im Vorfeld der Entscheidung die zur Verfügung stehenden Informationen sorgfältig analysiert" habe.
Millionen Liter an Desinfektionsmitteln
Auch andere Stellen in den Protokollen werfen Fragen auf: Der Bundesrechnungshof hatte dem damaligen Gesundheitsminister Spahn schon mehrfach attestiert, in einen regelrechten Kaufrausch bei Corona-Masken verfallen zu sein. Für Desinfektionsmittel war das bisher nicht bekannt. Doch in den Protokollen des Krisenstabs findet sich bereits am 12. Mai 2020 die Meldung, "dass für die Bundesebene mehr Desinfektionsmittel (insgesamt ca. 6 Mio. Liter) bestellt worden seien, als Lagerungskapazitäten zur Verfügung stehen". Die Abnahmeverpflichtung des Bundes solle deshalb "möglichst reduziert werden".
Ob das gelang, will das Gesundheitsministerium nicht mitteilen. Man solle sich mit Fragen zu Desinfektionsmitteln ans Innenministerium wenden, schreibt Lauterbachs Sprecher Hanno Kautz. Das Innenministerium teilt mit, dass man bis in den September 2020 insgesamt 7,9 Millionen Liter Desinfektionsmittel zum Preis von 50,2 Millionen Euro gekauft habe.
Im Frühjahr 2022 habe die Regierung dann beschlossen, die restlichen 6,7 Millionen Liter an ein Versorgungsunternehmen zu verkaufen - für 725.000 Euro, womit "eine sehr kostspielige Gefahrgutentsorgung vermieden werden konnte", wie das Innenministerium auf Anfrage von NDR, WDR und SZ mittelte.
Influencer gesucht
Bereits im August 2020 sah die Bundesregierung, dass sie beim Thema Corona eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr erreicht. "Problematisch ist, dass in Teilen der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber den klassischen Medien/Informationsgebern herrscht", stellt das Innenministerium in der Sitzung des Krisensstabs am 4. August 2020 fest.
Das Arbeitsministerium wirft in der Sitzung eine Woche später die Frage auf, "wie Menschen erreicht werden können, die zu Verschwörungstheorien neigen". Das Protokoll hält dazu fest: Das Bundespresseamt "konzentriert sich diesbezüglich auf Nutzer und Influencer, die sich zwar in den etablierten Informations-Blasen bewegen, gleichzeitig aber noch Bezüge zu den etablierten Medien haben".
Auf Anfrage von NDR, WDR und SZ, welche Influencer die Regierung beschäftigt habe, nennt das Bundespresseamt 32 Personen mit hoher Reichweite auf Instagram, YouTube und TikTok, an die die Bundesregierung im November und Dezember im Rahmen der "Corona-Warn-App-Kampagne" insgesamt rund 489.000 Euro bezahlt habe, darunter sind auch so bekannte Influencer wie Fynn Kliemann oder Sarah Engels. Beide äußerten sich bis Redaktionsschluss nicht zu der Frage, ob sie bezahlt wurden und welche Leistung sie erbracht haben. Außerdem hätten sich laut Regierungssprecher für die Reihe "CoronaErfahrungen" Sportler wie Ilkay Gündogan - ohne Honorar - zur Verfügung gestellt.
Kein Protokoll zu wichtiger Sitzung
Die Protokolle, die Frag-den-Staat gerichtlich erstritten hat, betreffen den Zeitraum vom 26. Februar 2020 bis 15. Dezember 2020. In dieser Zeit gab es 49 Sitzungen des Krisenstabs des Bundesregierung, aber nur 48 Protokolle. Es fehlt das Protokoll der achten Sitzung, die im März 2020 stattfand. Nach Angaben des Innenministeriums wurde bei dieser Sitzung kein Protokoll erstellt.
Das ist insofern bemerkenswert, weil diese Sitzung genau in jenen Zeitraum der Debatte über das vieldiskutierte Strategiepapier des Innenministeriums fällt. In diesem 17-seitigen Papier, an dem externe Wissenschaftler wie der Soziologe Heinz Bude, nicht aber das Robert-Koch-Institut (RKI) beteiligt waren, schlug das Innenministerium vor, gegenüber der Bevölkerung mit einer "Schockwirkung" zu arbeiten.
Man müsse dazu an die "Urangst" der Menschen appellieren, dass Angehörige "ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen werden und qualvoll zu hause sterben". Dazu hatten die Innenminister-Experten auch die Sterblichkeit durch das Virus doppelt so hoch angesetzt wie das RKI. Warum ausgerechnet von dieser Sitzung kein Protokoll angefertigt wurde, erklärte das Innenministerium nicht.