Rückführungen Sammelabschiebung in den Irak gestartet
Die Bundesregierung verhandelt hinter den Kulissen mit dem Irak über mehr Abschiebungen. Ein erstes Flugzeug ist jetzt gestartet. Das zweite soll schon bald folgen.
Eines war der Bundesregierung im Frühjahr wichtig zu betonen: Es gebe mit dem Irak kein offizielles Migrationsabkommen. Die Regierung sei zwar bemüht, mit verschiedenen Staaten Gespräche zu führen - über die Begrenzung irregulärer Migration und über legale Migration in den deutschen Arbeitsmarkt. Aber ein Abkommen mit dem Irak könne man nicht bestätigen. Sollte es Gespräche in einem frühen Stadium geben, so würde man sich dazu nicht äußern.
Tatsächlich hatte Deutschland zu diesem Zeitpunkt im Mai laut einem Bericht von NDR und WDR bereits die Absicht auf eine engere Zusammenarbeit im Bereich Migration per Unterschrift erklärt - aber eben nur verborgen, fernab der Öffentlichkeit, nicht als offizielles Abkommen.
Wie eine neue Recherche von NDR und WDR jetzt zeigt, entfaltet die geheim gehaltene vertiefte Kooperation langsam Wirkung: Nachdem es offenbar in den vergangenen Jahren keine größeren Abschiebeaktionen in den Irak gegeben hatte, startete Ende September von Deutschland aus wieder ein sogenannter Sammelcharter nach Bagdad. Für November soll bereits der nächste geplant sein.
Keine Straftäter
Geplant war offenbar, insgesamt zehn Iraker mit dem Flug im September abzuschieben. Letztendlich sollen sieben von ihnen an Bord der Maschine gewesen sein. Das Flucht- und Migrationsministerium Nordrhein-Westfalen bestätigte auf Anfrage die Abschiebung von sieben Personen am 27. September aus NRW in den Irak. Dabei habe es sich nicht um Straftäter gehandelt.
Auch das Bundesinnenministerium bestätigte auf Nachfrage die Abschiebung. Charterflüge in den Irak fänden "vergleichsweise selten" statt. Der Flug Ende September sei "in jüngerer Vergangenheit gemessen an der Zahl der Rückzuführenden der größte" gewesen, wie das Innenministerium mitteilte. Von einem sogenannten Sammelcharter spreche man, wenn mindestens fünf Personen für die Abschiebung per Charterflug vorgesehen seien.
Fehlender Plan zu Rückübernahmen
Nach Informationen von NDR und WDR sind seit dem Frühsommer Abschiebungen in den Irak offenbar wieder vollumfänglich möglich. Demnach soll Bagdad seither grundsätzlich bereit sein, nicht mehr nur straffällige Menschen zurückzunehmen. Familien sollten jedoch zunächst nicht für Rückführungen angemeldet werden. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl berichtet, dass der Irak vermehrt Identitäten von abgelehnten Asylbewerbern bestätige - eine wichtige Voraussetzung für eine Rückführung. Offiziell wollte sich der Irak zu den Entwicklungen nicht äußern.
Tatsächlich sollen die Gespräche den Recherchen zufolge mit Skepsis auf beiden Seiten verlaufen. In der Europäischen Union (EU) gibt es neben Deutschland mehrere Staaten, die beim Thema Rückführung auf eine engere Kooperation mit dem Irak hoffen. Aber: Die meisten Ländern zeigten sich bislang eher enttäuscht von den Aussagen aus Bagdad.
Eine Kritik in diesem Jahr lautete beispielsweise, der Irak präsentiere keine konkreten Schritte zur Rückübernahme, es fehle ein "Rückkehrplan", wie es in Dokumenten heißt. Bagdad wiederum erhofft sich im Gegenzug zum Beispiel Visa-Erleichterungen für seine Staatsangehörigen.
Anreize für Rücknahmen bieten
Anders als andere EU-Staaten arbeitet Deutschland mit Hochdruck an sogenannten Migrationspartnerschaften. Dafür wurde mit Joachim Stamp sogar ein eigener Beauftragter ernannt. Erste Vereinbarungen wurden bereits geschlossen. Was fehlt, sind jedoch Abkommen mit Hauptherkunftsländern von abgelehnten Asylbewerbern etwa aus Nordafrika oder eben dem Irak.
Sogenannte Migrationsabkommen sind bereits im Koalitionsvertrag als Ziel formuliert. Welche Bedeutung ihnen zukommen soll, darauf wies Bundeskanzler Olaf Scholz erst in dieser Woche im Bundestag hin: "Das Wichtigste, was wir für die Zukunft brauchen, sind aber Migrationsabkommen." Sie seien "der entscheidende Unterschied zu vielem, was in den letzten Jahren war". Migrationspartnerschaften seien "das, was wir brauchen, damit wir nicht nur Rückführungsbescheide haben, sondern sie auch durchsetzen können, weil die Länder der Herkunft diejenigen, die gehen müssen, auch wieder aufnehmen".
Scholz erklärte, er könne aus vielen Gesprächen mit Regierungschefs und Staatschefs berichten, dass es für solche Abkommen ein "großes Interesse" gebe. Bereits im Januar hatte sich Scholz mit dem irakischen Premierminister in Berlin über die Rückkehr von Irakern unterhalten. Beim Besuch der UN-Vollversammlung im September in New York gab es ein weiteres Gespräch.
Engere Kooperation bei Identitätsfeststellung
Der Irak spielt für die Bundesregierung allein schon wegen der hohen Zahlen eine Schlüsselrolle: Ende 2022 lebten in Deutschland etwa 35.000 ausreisepflichtige Iraker. Rund 32.000 von ihnen waren geduldet. Abschiebungen scheiterten immer wieder vor allem daran, dass es Probleme mit der Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit gab. Genau hier wollen beide Länder offenbar enger kooperieren. Rückführungen werden aber auch noch jetzt als Einzelfälle behandelt.
Die offiziellen Rückführungszahlen liegen deshalb trotz der Annäherung beider Länder auf sehr niedrigem Niveau: 2022 waren lediglich 77 Iraker direkt in den Irak zurückgeführt worden. Im Jahr 2023 sind die Zahlen leicht gestiegen: Bis Ende August waren es laut Bundesinnenministerium 76 Iraker, die direkt in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden. Im August waren es dabei mit 27 Personen mit Abstand die meisten. Die Zahlen für September liegen laut Ministerium noch nicht vor.
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums erfolgt die Kooperation mit dem Irak aktuell im sogenannten vertragslosen Verfahren. Demnach ist mit Blick auf das Völkerrecht jeder Staat verpflichtet, seine eigenen Staatsbürger zurückzunehmen, wenn diese woanders über kein Aufenthaltsrecht verfügten. Ein Migrations- oder Rückübernahmeabkommen bestehe mit dem Irak nicht.
Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen
Dieses Dementi, wonach es kein offizielles Abkommen mit Bagdad gebe, sagt jedoch wenig über die Tiefe der Kooperation aus. Das beste Beispiel ist das sogenannte EU-Türkei-Abkommen. Die Türkei sagte zu, unerlaubte Grenzübertritte in die EU zu verhindern und Flüchtlinge im eigenen Land besser zu versorgen. Europa überwies dafür mehrere Milliarden Euro. Bei dem sogenannten Abkommen handelte es sich aber niemals um einen Vertrag, sondern schlichtweg um den Text einer gemeinsamen Presseerklärung.
Nach Informationen von NDR und WDR handelt es sich bislang tatsächlich auch bei den Verabredungen zwischen Deutschland und dem Irak nicht um ein rechtlich verbindliches Abkommen, sondern um eine Verabredung, über die Stillschweigen vereinbart wurde. Das Ziel irgendwann: eine "Gemeinsame Erklärung", eine "Joint Declaration".
Ungeachtet dessen schätzt die Bundesregierung die Lage für Rückkehrer im Irak weiterhin als kritisch ein. Laut dem Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes von Ende 2022 sind staatliche Stellen "nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich". So seien Folter zur Erzwingung von Geständnissen, willkürliche Festnahmen und Entführungen durch irakische Sicherheitskräfte verbreitet. Den Schutz von religiösen Minderheiten könne der irakische Staat "nicht sicherstellen".