Clankriminalität Unschuldige im Visier
Seit Jahren bekämpfen Politik und Polizei die Kriminalität von Mitgliedern von Großfamilien als sogenannte Clankriminalität. Doch großangelegte Kontrollen und Razzien bringen weniger als erhofft - und treffen oft auch Unschuldige.
Kontrollen - am Tag, am späten Abend, in der Nacht. Immer wieder durchsuchen die Behörden die Läden von Ismail Sahan im Frankfurter Gallusviertel. Auf Überwachungsvideos ist zu sehen, wie sich gleich zwölf Polizisten durch den schmalen Hintereingang des Kiosks drängen, mit schusssicheren Westen. Auf anderen Videos sieht man Sahan an der Wand, mit erhobenen Händen.
Mehr als 150 Einsätze hat der 39-Jährige in seinem Kiosk und seiner Shishabar seit 2019 gezählt. Aber weshalb er so im Visier der Polizei ist, das kann sich der Vater von drei Kindern nicht erklären. "Jedes Mal, wenn sie da waren, habe ich gefragt: Was mache ich falsch?", sagt er. Nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor und der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) ist der Grund sein polizeibekannter Nachname.
Große Öffentlichkeitswirkung
Sogenannte Clankriminalität gehört zu den meistdiskutierten Kriminalitätsfeldern in Deutschland: Politik und Polizei bekämpfen die "kriminellen Großfamilien" öffentlichkeitswirksam, erstellen Lagebilder, lassen Razzien mit der Kamera begleiten.
2021 gab es deutschlandweit 47 Ermittlungsverfahren gegen Clans, die meisten davon betrafen Drogendelikte. Clans werden aber auch mit spektakulären Straftaten in Verbindung gebracht, mit Überfällen auf Geldtransporter, ein Pokerturnier oder das Berliner Luxuskaufhaus KaDeWe. Mitglieder einer Berliner Großfamilie haben sich offenbar auf Museumseinbrüche spezialisiert und vor sechs Jahren eine hundert Kilogramm schwere Goldmünze aus dem Bode-Museum gestohlen. Auch für das Verschwinden der Juwelen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden wird sie verantwortlich gemacht.
Der Clankriminalität zugeordnet
Zu diesen Verbrechen haben die Sahans keinerlei Verbindungen. Aber, so zeigen es die Recherchen, sie firmieren bei den hessischen Behörden als Familie, die sie der sogenannten Clankriminalität zuordnen. Verwandte von Ismail Sahan sollen in eine Messerstecherei und ein weiteres versuchtes Tötungsdelikt verwickelt gewesen sein, aus polizeilicher Sicht habe es "dringenden Handlungsbedarf" gegeben.
Seitdem taucht nicht nur die Polizei ungewöhnlich oft bei Sahan auf. Auf seinem Wohnzimmertisch stapelt sich Behördenpost: Die Polizei, das Ordnungsamt, der Zoll, die Steuerfahndung, das Gesundheitsamt, das Bauamt. Alle waren schon da. Seine Geschäfte leiden unter den Kontrollen, Stammgäste bleiben aus. "Die haben Angst. Die sagen, die Polizei kommt nicht ohne Grund", so Sahan.
Warum genau die Behörden ihn in so außergewöhnlichem Ausmaß kontrollieren, weiß er nicht. Er habe mit Kriminalität nichts zu tun. Auch als er eine Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt einlegt, bekommt er keine ergiebige Antwort. Die Recherchen zeigen zudem: Es laufen keinerlei staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen Ismail Sahan - offenbar hat er lediglich den "falschen" Nachnamen.
Begriff "Clan" umstritten
Das Bundeskriminalamt bezeichnet Clans als "informelle soziale Organisation", "die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt" seien. Der Begriff ist umstritten, weil nicht klar ist, wer überhaupt zu einem Clan gehört und weil die Clans selbst aus vielen Familien bestehen, die oft nicht einmal miteinander verwandt sind und von denen nur ein winziger Teil kriminell ist.
Sahans Fall klingt wie aus dem Lehrbuch der sogenannten "Politik der 1000 Nadelstiche". Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul prägte den Begriff. Die Nadelstiche, das sind niederschwellige Kontrollen von Betrieben wie Kiosken, Shishabars oder Friseurläden. Orte, die angeblich mit der "Clankriminalität" in Verbindung stehen.
Behördenaktionen auch ohne konkreten Anfangsverdacht
Als sogenannte Verbundaktionen werden diese gemeinsam von Behörden wie dem Ordnungsamt und der Polizei durchgeführt, ohne Durchsuchungsbeschluss und ohne konkreten Anfangsverdacht. Häufig dürfen Fernsehteams dann filmen, wie Genehmigungen für Spielautomaten oder der Brandschutz kontrolliert werden oder die Besucher von Shishabars nach ihren Ausweisen gefragt werden.
Die Polizei hofft offenbar, dabei Waffen oder Drogen zu finden, meist bleibt es aber bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten oder wenigen Kilogramm unverzolltem Tabak. Allein in NRW wurden seit 2019 insgesamt 2468 solcher Kontrollaktionen durchgeführt.
"Wo ist dann die Grenze?"
Die Kontrollen sehen Experten wie der Frankfurter Professor für Kriminologie Tobias Singelnstein kritisch: "Ich glaube, das ist in verschiedener Weise problematisch, dass in diesem Vorfeldbereich und in dieser Breite vorgegangen wird mit der 'Politik der 1000 Nadelstiche'." Es gebe gesetzliche Grundlagen dafür, dass die Gewerbeaufsicht diese Kontrollen durchführen kann, sagt Singelnstein im Monitor-Interview. "Und jetzt kann man sich natürlich die Frage stellen: Wo ist dann die Grenze?"
Der Nutzen dieser Strategie für die Aufklärung schwerer Straftaten ist jedenfalls begrenzt: "Mit diesen Maßnahmen finden sie keine organisierte Kriminalität", sagt der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba von der Universität Erlangen-Nürnberg. Jaraba hat zahlreiche Interviews mit Familienangehörigen von Großfamilien geführt, die die Behörden der Clankriminalität zurechnen. "Diese regelmäßigen Kontrolle verstärken die Pauschalisierung. Shishabars werden direkt verknüpft mit Kriminalität und Großfamilien."
Minister gibt "Nebenwirkungen" zu
Ein weiteres Problem: Die "Nadelstiche" werden nicht sehr gezielt gesetzt. Oft reicht es, über mehrere Ecken mit kriminellen Clanmitgliedern verwandt zu sein. Oder denselben Nachnamen zu haben. Angesprochen auf diese Diskriminierung und auf die Begleiterscheinungen der Kontrollen sagt Innenminister Reul im Monitor-Interview: "Also das, was wir machen, ist nicht ohne Nebenwirkungen." Es treffe auch Unschuldige: "Kontrolle bedeutet immer, sie werden viele Menschen auch belästigen, die sich gar nichts haben zuschulden kommen lassen."
Doch wo Behörden ganz genau hinschauen, da werden sie in der Regel auch fündig. Bei Ismail Sahan wurde eine Reihe von Ordnungswidrigkeiten festgestellt, Lärmbelästigung etwa. Einmal fehlte am Kontrolltag ein Impfausweis eines Mitarbeiters, ein anderes Mal Speisekarten auf den Tischen oder Sahan hatte falsch geparkt. Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Vorhaltens von Arbeitsentgelt und Verstoßes gegen das Schwarzarbeitsgesetz wurde eingestellt wegen geringer Schuld.
LKA rechtfertigt Razzien
Und doch antwortet das Landeskriminalamt Hessen auf Anfrage von Monitor und der SZ, die Kontrollen in seinen Geschäften stünden im Zusammenhang mit Clankriminalität. Oberstes Ziel sei es, "kriminelle Strukturen aufzuhellen und die Bedrohung der Bürgerinnen und Bürger in Frankfurt konsequent zu bekämpfen." Es stehe allerdings "nicht die gesamte Familie im Fokus, sondern ausschließlich tatverdächtige Angehörige", heißt es in der Antwort. Polizeiliches Handeln sei zudem stets transparent dargestellt worden.
Ismail Sahan lässt das ratlos zurück. Er sei "schockiert", sagt er, und "sehr traurig." Er habe sich noch nie strafbar gemacht - warum also muss er die Kontrollen ertragen? "In einer Kiste mit Äpfeln gibt es immer einen faulen", sagt er. Den müsse man entfernen und doch nicht gleich die ganze Kiste kaputtmachen.