Neonazis in Sachsen Corona als Rekrutierungshilfe
Die Corona-Pandemie war ein Brandbeschleuniger für die Radikalisierung Jugendlicher in der extrem rechten Szene, wie Recherchen des MDR-Magazins Fakt zeigen. In Brennpunkten wie Zwickau stemmen sich Jugendclubs und Streetworker dagegen.
An der Wand im Zwickauer "Lutherkeller" hängt ein Plakat, das rechtsextremistische Symbole erklärt, die hier verboten sind. Alles andere versucht der Sozialarbeiter Chris Schlüter durch Gespräche aufzufangen. Immer wieder ist er mit menschenfeindlichen Aussagen konfrontiert. Geduldig hinterfragt er geäußerte Aussagen, setzt auf seine gute Beziehung zu den Jugendlichen und versucht sie durch die Gespräche zum Nachdenken zu bewegen. Während Schulen und Jugendtreffs über lange Zeiten schließen mussten, hätten extrem rechte Organisationen ihre Angebote ausgeweitet. Das könne er auch bei seinen Jugendlichen spüren.
Jugendliche trainieren für Tag X
Ob die Vernetzung bei den sogenannten Montagsspaziergängen oder gezielte Angebote für Jugendliche von neonazistischen Organisationen wie der Kleinstpartei "Der Dritte Weg": Die Corona-Pandemie hat organisierten Rechtsextremen das Rekrutieren erleichtert. Auch in Zwickau und Plauen etwa ist "Der Dritte Weg" aktiv. Die von ehemaligen NPD-Funktionären und Aktivisten des seit 2014 verbotenen "Freien Netz Süd" mitgegründete Partei unterbreitet Jugendlichen regelmäßig Angebote.
"Ja, es ist wie 'ne kleine Familie dort. Einfach das Kameradschaftliche. Man hilft sich halt untereinander", sagt ein 16-Jähriger, der mit dem "Dritten Weg" sympathisiert. Es gebe kostenlose Nachhilfe für Kinder und kostenloses Kampfsporttraining. Das betreibe er auch selbst. "Die sagen halt immer: 'Für den politischen Straßenkampf. Für Tag X., dem Umsturz der Regierung.'"
"Der Tag X impliziert den expliziten Einsatz von Gewalt", sagt Theresa Richter vom Kulturbüro Sachsen. Die neonazistische Partei ziehe sich gezielt Nachwuchskader heran und verstehe sich als "Elite". Um Jugendliche bei sich zu halten, tritt sie als Kümmerer auf und gibt sich einen sozialen Anstrich.
Die Fehler der Jugendarbeit nach der Wende
Zwickau ist schon lange ein Hotspot der rechten Szene. Das sogenannte NSU-Trio hatte hier bis 2011 versteckt im Untergrund gelebt: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Die drei hatten sich Anfang der 1990er-Jahre in Thüringen kennengelernt.
Eine zentrale Rolle spielte damals ein Jugendclub in Jena - der war für die späteren Rechtsterroristen der zentrale Treffpunkt. "Für den NSU, und die Kerngruppe um den späteren NSU herum, war der städtisch finanzierte Jugendclub, der Winzerclub, der zentrale Ort der Radikalisierung", sagt Matthias Quent, Extremismusforscher an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Dort habe man sich ausgetauscht, Konzerten gelauscht, eine Form politischer Subkultur etabliert - und so gerieten immer mehr junge Menschen in den Sog des Neonazismus. Andersdenkende wurden abgeschreckt. "Dass es also kein Ort für alle war, sondern letztlich eine rechtsextreme, eine national befreite Zone und dann auch Ausgangspunkt für Gewalt und Terror."
Die Fehler der Vergangenheit, der rechten Szene ganze Jugendclubs zu überlassen, will die Jugendarbeit heute nicht wiederholen. Die Herausforderung für Schlüter: Rechts-orientierte Jugendliche im Lutherkeller teilhaben lassen und trotzdem klare Grenzen setzen. Das ist schwer, wenn etwa ein 16-Jähriger sagt, dass er auch kein Problem damit habe, wenn Menschen mit anderen Hautfarben angegriffen werden.
Der Pädagoge gibt zu, dass er sich in einem Spannungsfeld bewege, und erkennt die Grenzen seiner Arbeit. Unwahrscheinlich, dass er den 16-Jährigen davon überzeugt, für eine offene Gesellschaft einzustehen. "Unsere Aufgabe ist es dann eben zu sagen: 'Okay, wie schaffen wir es vielleicht, gemeinsam den Weg zu finden, dass du die offene Gesellschaft zumindest akzeptierst.'"
Gewalt und Vernetzung auf den "Montagsspaziergängen"
Wie die Ideologie in Gewalt umschlägt, zeigte sich in Zwickau auf den Protestmärschen gegen die Corona-Maßnahmen, zu denen unter anderem die "Deutsche Jugend Zwickau" mobilisierte - ein inzwischen gelöschter Instagram-Kanal aus dem Neonazi-Milieu.
Vor allem Jugendliche beschallten die Demos mit Parolen wie "Bambule, Randale, Rechtsradikale". Auf einer "Montagsdemo" im November vergangenen Jahres wurde ein Team des MDR Ziel eines Angriffs. Die zwei Angreifer waren gerade einmal 17 Jahre alt. Nur eine Woche nach dem Übergriff eskalierte der sogenannte Montagsspaziergang erneut. Die Polizei wurde eingekesselt und es gab Anzeigen wegen des Zündens von Pyrotechnik und dem lautstarken Skandieren von "Sieg Heil!"-Rufen. Einer der jugendlichen Täter sitzt inzwischen in Haft. Unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung - er hatte einen gleichaltrigen fast totgeschlagen.
"Sie sind gewaltbereit, die sind gut vernetzt. Und das sind Entwicklungslinien, die es definitiv sehr gut zu beobachten gilt", sagt Richter, die die rechtsradikale Szene in der Region Zwickau beobachtet. Denn gerade am Beispiel des NSU und Zwickau habe sich gezeigt, dass "rechter Terror immer da entsteht, wo auch nicht genau hingeguckt wird. Wo Sicherheitsbehörden auch nicht durchgreifen."
Deradikalisierung als Ziel
Häufig entfalte erst eine Haftstrafe eine Wirkung auf radikalisierte Straftäter, meint der Experte für Deradikalisierung, Peter Anhalt. Die straffällig gewordenen Neonazis seien von ihrem vorherigen sozialen Umfeld isoliert und auf der Suche nach zwischenmenschlichen Beziehungen. "Bei den meisten Klienten, mit denen wir arbeiten, gibt es eine wie auch immer geartete Ambivalenz zwischen destruktiven Anteilen und dem Wunsch nach einem ganz anderen Leben. Und an dieser Ambivalenz anzudocken und zu sagen okay, es gibt auch die Seite, die auch was anderes will und die auch sieht, dass das, was er tut, nicht richtig ist."
Um es gar nicht so weit kommen zu lassen, dafür braucht es Kraftanstrengungen wie die von Chris Schlüter. Matthias Quent kritisiert, dass Kinder und Jugendliche viel zu selten im Fokus politischer Debatten stünden. "Es ist ein gesellschaftliches und auch ein politisches Versagen, dass gerade jungen Menschen so wenig Aufmerksamkeit, so wenig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Angebote zu haben, die eben nicht rechtsextrem sind", sagt Quent. Es brauche Räume, in denen sich Jugendliche verwirklichen könnten, in denen sie Bestätigung, Anerkennung und Gemeinschaft fänden, ohne radikalisiert zu werden. "Das heißt, der Rechtsextremismus ist immer auch eine Antwort auf Schwächen, auf Fehler und immer auch auf das Versagen von Gesellschaft und Politik."