Pillen über Jahre Wie Heimkinder sediert werden
"Du wurdest mit Tabletten ruhiggestellt" - so beschreibt ein Augsburger seine Kindheit im Heim. BR-Recherchen zeigen, dass Heimkinder immer wieder über lange Zeit mit Psychopharmaka sediert werden. Das wirft Fragen auf - auch an den Gesetzgeber.
Als es zum Abendessen geht, sitzt Fabian benommen am Tisch. Zwei Brote liegen für ihn bereit. Doch Hunger hat er kaum noch. Eine Nebenwirkung der Tablette, die er immer vor dem Abendessen bekommt.
Noch viel schlimmer ist für Fabian die sedierende Wirkung. Seinen Kopf muss er auf die Hände stützen, immer wieder fallen ihm die Augen zu. "Ich habe teilweise schon gefragt, ob ich ins Bett darf? Dann hieß es: 'Nö!'" So erinnert sich der junge Familienvater an seine Zeit in einem Augsburger Kinderheim, in das er als Zwölfjähriger kommt.
"Dipiperon habe ich bekommen, über ein bis zwei Jahre", sagt Fabian. Das Medikament ist ein Neuroleptikum, dass vor etwa einem Jahr erstmals in die Schlagzeilen kommt. Der als "Star-Psychiater" betitelte Arzt Michael Winterhoff soll Kinder damit jahrelang in unverantwortlicher Weise sediert haben.
Keine wirkliche Rechtfertigung
Auch Fabian hat sich durch das Mittel "absolut ruhiggestellt" gefühlt. Er sei als Kind frech gewesen, aber weder aggressiv noch in sonst irgendeiner Weise so auffällig, als dass das Mittel gerechtfertigt gewesen wäre. "Und es wurde lange nichts unternommen, dass ich weniger bekomme."
Dabei gehöre genau das zum verantwortungsbewussten Einsatz von Psychopharmaka, sagt Psychiaterin Renate Schepker: "Dass Tabletten auch reduziert werden, dass es Absetzversuche gibt. Ich kenne das aus meinen Sprechstunden, dass Kinder genau danach auch fragen", so die Professorin, die im Vorstand der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie sitzt.
Schepker stellt klar: Psychopharmaka seien auch für junge Patienten ein Segen und könnten viel Leid mindern. Jedoch nur, wenn sie verantwortlich eingesetzt würden: "Dass nicht unkritisch eine Dauermedikation - die ich für am problematischsten halte in der Jugendhilfe - weiter und weiter und weiter geführt wird."
Mehrere Fälle von Dauermedikation
Eine Dauermedikation, von der Fabian nicht als einziger berichtet. Eine frühere Heimleiterin und ein Psychologe, der mehrere Heime betreut, berichten Ähnliches. Da beide Interna verraten, sollen ihre Namen nicht genannt werden. Dem BR liegen schriftliche Belege ihrer Tätigkeit vor.
"Es gab eine Situation, da wurde ein sieben Jahre altes Kind aus der Familie geholt und in unsere Einrichtung gebracht. Das Kind ist ausgeflippt", berichtet die frühere Leiterin. "Das ist aus meiner Sicht aber eine erwartbare Situation. Trotzdem wurde das Kind über einen längeren Zeitraum mit Dipiperon behandelt. Das halte ich bei einem sieben Jahre alten Kind nicht für sinnvoll."
Unsinnige Verordnung von Sexualhormonen
Der Psychologe berichtet sogar von einem Heimkind, dem Sexualhormone verordnet worden seien. Das sei "für die Indikation völlig unsinnig gewesen und einer möglichen Körperverletzung" gleichgekommen. Der Therapeut zog eine Anzeige in Betracht, entschied dann aber, den Fall anders zu lösen.
Zu oft und zu lange würden Tabletten verordnet, anstatt auf therapeutische Gespräche zu setzen, so das Fazit der früheren Leiterin: "Medikamente sind im Notfall sinnvoll und sie wirken natürlich schneller. Es kuriert aber oft nur Symptome. Die Ursachen müssen auch bearbeitet werden."
Auch Psychiaterin Schepker betont, wie wichtig Psychotherapie sei. Heimkinder würden jedoch strukturell benachteiligt. Manchen Einrichtungen sei schon der Anfahrtsweg zu weit, gerade in ländlichen Regionen. Noch viel mehr kritisiert sie jedoch eine Regelung aus dem Sozialgesetzbuch.
Tablettengabe schließt Psychotherapie aus
Konkret geht es um Heimkinder, die in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik-Ambulanz mit Tabletten behandelt werden. Eine gängige Praxis. Das Problem: "Diese Kinder können nicht zugleich eine ambulante Psychotherapie machen", so Schepker. Grund sei das Sozialgesetz. "Das ist widersinnig", kritisiert Schepker. "Die Kinder brauchen oft beides, Medikamente und Psychotherapie." Mehrfach hat der BR das zuständige Bundesgesundheitsministerium dazu befragt. Doch eine Antwort bleibt aus.
Hinzu kommen Nebenwirkungen der Psychopharmaka, die bei Kindern so gut wie nie durch Studien erforscht wurden. Viele Mittel werden laut Experten "Off-Label" eingesetzt, das heißt etwa in Altersgruppen, für die die Mittel eigentlich nicht zugelassen sind. Umso wichtiger sei es, etwaige Nebenwirkungen rechtzeitig zu erkennen und auch zu melden. Renate Schepker fordert, dass Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendhilfe dafür viel besser ausgebildet werden müssten.
Demütigende Brustbildung durch Medikamente
Was geschieht, wenn zu spät gehandelt wird, kann man bei Yannik sehen. Zusammen mit Fabian hat er in dem Augsburger Heim gelebt. Als Yannik 13 Jahre alt ist, bekommt er die sedierenden Medikamente Olanzapin und Risperidon verordnet. Bald darauf beginnen ihm Brüste zu wachsen.
Yannik litt in seiner Heimzeit unter den gravierenden Nebenwirkungen sedierender Medikamente.
Seine Scham nimmt keiner ernst, erinnert sich Yannik, der zu der Zeit oft mehrere T-Shirts übereinander trägt, damit keiner seine Brüste bemerkt. Beim Schwimmausflug, an dem er habe teilnehmen müssen, muss er sie dann entblößen: "Yannik, bist du ein Mann oder eine Frau? Solche Sprüche habe ich mir anhören müssen. Ich habe mich einfach hilflos gefühlt."
Bei einer Nebenwirkung wie im Fall von Yannik hätte man die Tabletten absetzen müssen, sagt Psychiaterin Schepker. Ein rechtzeitiges Einschreiten hätte die bleibende Brustbildung verhindern können: "Mir ist es noch nicht passiert, dass im Nachhinein eine Operation nötig geworden wäre", so Schepker weiter.
Klinik äußert sich nicht zu Vorwürfen
Die Augsburger Kinderklinik, die Yannik die Medikamente verschrieben hat, will sich auf BR-Anfrage nicht zu den Vorwürfen äußern. Die Tabletten seien wegen des "Verdachts einer beginnenden Psychose" sowie einer "kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen" verordnet worden. Wegen der "Komplexität" der Behandlung bietet die Klinik Yannik ein persönliches Gespräch an. Für die Operation, um die Brüste zurückzubilden, muss Yannik jahrelang kämpfen. Im Operationsbericht ist eine "ausgeprägte Gynäkomastie" dokumentiert.
Auch bei Fabian bleibt vieles unklar: Die Kinderärztin, die ihm und anderen im Heim Tabletten verschrieben haben soll, hat ihre Praxis aufgegeben. Versuche, sie ausfindig zu machen, schlagen fehl. Auch Nachfragen beim Heim enden ergebnislos: Die Akten von Yannik und Fabian seien nach zehn Jahren "datenschutzkonform" vernichtet worden, heißt es auf BR-Anfrage. Und über die Arbeit der Ärztin könne man ohne deren ausdrückliches Einverständnis nichts sagen.
Weiter erklärt das Heim schriftlich: "Der Einsatz von Medikamenten wird in unserer Einrichtung mit größter Sorgfalt begleitet." Bewohner, Sorgeberechtigte, Betreuer und Ärzte würden sich "fachlich und persönlich" abstimmen. Bezüglich der Medikamente würden die Kinder und Jugendlichen über ihr Befinden und ihre Eigenwahrnehmung befragt, Ärzte würden umgehend über verändertes Verhalten informiert.
Fabian hat sich inzwischen mit Yannik getroffen. Gemeinsam sprechen sie über ihre Erlebnisse. Der Lebensweg von Yannik macht Fabian betroffen. "Er war ein Junge mit Problemen. Aber soweit hätte es nicht kommen müssen", lautet sein Fazit.