Datenanalyse

Coronavirus-Ausbreitung Von Ischgl nach ganz Deutschland

Stand: 01.04.2020 12:12 Uhr

Wie kam es zur Ausbreitung des Coronavirus in ganz Deutschland? Ein Auslöser könnten Menschen sein, die im österreichischen Skiort Ischgl Urlaub gemacht haben. Das zeigt eine Datenrecherche des BR.

Von Pia Dangelmayer, Robert Schöffel, Maximilian Zierer, Eva Achinger, Steffen Kühne, BR

Snowboarder im Pulverschnee, Biergläser in der Abendsonne, Touristen eng umschlungen in der Après-Ski-Hütte. Im richtigen Licht aufgenommen ist der Tiroler Skiort Ischgl ein wahres Wintersportparadies. Auf Instagram finden sich Hunderte Bilder, die zeigen, wie der Schneespaß Anfang März trotz Corona-Warnungen weiterging. Heute ist klar: Ischgl war wohl einer der Corona-Hotspots in Europa. Eine Auswertung der BR-Datenjournalisten gibt nun Hinweise, wie sich das Virus von dort aus verbreitet haben könnte.

Die Journalistinnen und Journalisten haben mehr als 4000 Instagram-Posts ausgewertet, die zwischen Ende Februar und Anfang März in Ischgl gepostet wurden, also in der Zeit, als sich dort wohl die ersten Urlauber infiziert hatten und es in der Folge mehrere bestätigte Corona-Fälle gab. Weil viele Instagramer ihre Bilder mit Standortdaten verknüpfen, lässt sich zeigen, dass mehr als 1000 Nutzer nach ihrem Ischgl-Aufenthalt von anderen Orten in Europa aus Bilder veröffentlicht haben. Touristen, die sich in Ischgl infiziert hatten, könnten das Virus also auf dem ganzen Kontinent verteilt haben. Etwa in Großbritannien, Island, Polen oder Tschechien. Besonders viele Ischgl-Instagramer waren danach in den Niederlanden und Belgien, der Schweiz, Skandinavien - und vor allem in Deutschland.

Erste Warnungen aus Island

Am 5. März erklärte Island den beliebten Skiort Ischgl zum Risikogebiet. Davor hatte das Land bereits über das Europäische Frühwarnsystem auf das Cluster Ischgl aufmerksam gemacht. Eine offizielle Warnung folgte daraus nicht - weder in Tirol, noch in Deutschland. Dabei kommen die meisten Ischgl-Touristen von hier.

Am Samstag, den 7. März, hatten sich 17 Freunde aus Deutschland auf den Weg nach Österreich gemacht. Wie jedes Jahr wollten sie zusammen Skifahren, dieses Jahr sollte es zum ersten Mal nach Ischgl gehen. "Klar war Corona kurz ein Thema", sagt eine, "aber es gab ja keinerlei Hinweise und auch keine Reisewarnung." Also war ausnahmsweise das Desinfektionsmittel mit im Gepäck und sonst - alles wie immer.

"Kitzloch ist tabu Leute"

An den ersten beiden Abenden feierten noch ein paar wenige aus der Gruppe beim Après-Ski. Am Montag hieß es dann plötzlich im gemeinsamen Chat: "Kitzloch ist tabu Leute!!" - dazu ein Smiley mit Mundschutz. Ein Mitarbeiter aus der beliebten Après-Ski-Bar wurde einen Tag zuvor als erster offizieller Corona-Fall in Ischgl öffentlich. Die Pressemitteilung der Landessanitätsdirektion Tirol enthielt gleichzeitig den beruhigenden Satz: "Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich." Wie falsch diese Einschätzung war, sollte sich schon am Montag zeigen: 15 weitere Personen aus dem Umfeld des Barkeepers hatten sich infiziert.

Das Kitzloch wurde geschlossen, in den anderen Bars und Skihütten herrschte weiterhin Normalbetrieb. Einen Tag später, am späten Nachmittag des 10. März, mussten schließlich alle Après-Ski-Lokale zusperren. Ab 11. März hing an der Gondel ein Schild: "Aufgrund einer vorbeugenden Maßnahme zum Schutz Ihrer Gesundheit (Prävention COVID-19) bitten wir Sie, die Kabinen mit max. 14 Personen zu besetzen." Ins Bergrestaurant durften nur noch maximal 100 Leute, die Hälfte wurde abgesperrt. Am Donnerstag kam die offizielle Meldung: Die Skisaison wird zum 14. März beendet. Die ersten aus der Gruppe reisten ab - auch Lucas. "Als die ersten positiven Fälle auftraten, war es eine Frage der Mathematik. Es gab ungefähr so viel Fälle wie zu der Zeit in Berlin - und die Wahrscheinlichkeit, in Ischgl einem Kranken zu begegnen, ist halt dann doch größer als in Berlin", erzählt er dem BR.

Elf von 17 positiv getestet

Das Ergebnis der gemeinsamen Ski-Reise: 15 aus der Gruppe wurden krank, einige nur mit Husten, andere mit Fieber oder Schüttelfrost; elf wurden schließlich positiv auf das Coronavirus getestet. Verteilt über ganz Deutschland: Hamburg, Berlin, Köln, Leipzig, Stuttgart. Alle begaben sich sofort nach der Rückkehr in Quarantäne. Denn kurz nachdem sie das Paznauntal verlassen hatten, erklärte das Robert Koch-Institut Tirol doch noch zum Risikogebiet. In vielen anderen Fällen sind Ischgl-Rückkehrer hingegen noch zur Arbeit gegangen oder besuchten Feste, bevor sie Symptome entwickelten und positiv auf das Virus getestet wurden.

Wie viele solcher Fälle wären vermeidbar gewesen, wenn Tirol schneller reagiert hätte? Das Land Tirol betont auf BR-Anfrage, es habe bereits kurz nach der Meldung der Isländer Testungen auf das Coronavirus durchgeführt und "wenige Tage später die touristische Wintersaison für beendet erklärt". Es sei das erste Bundesland in ganz Österreich gewesen, das derart weitreichende Schritte gesetzt habe.

Viele frühe Fälle in Deutschland aus Ischgl

Der BR hat deutsche Pressemeldungen ausgewertet und ist auf 341 Fälle aus 101 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten gestoßen, in denen sich Reisende mutmaßlich in Ischgl angesteckt hatten - verteilt über fast das gesamte Bundesgebiet. Viele von ihnen gehörten nach ihrer Rückkehr zu den ersten in ihrem Heimatort, die positiv auf das Virus getestet wurden. Und: Eine ganze Reihe der Urlauber war noch nach dem 5. März nach Ischgl aufgebrochen - also nachdem Island das Land Tirol bereits zum Risikogebiet erklärt hatte.

Genau wie der Freundeskreis aus Deutschland. Jetzt, nach zwei Wochen in häuslicher Quarantäne, geht es allen wieder gut. Aber im Nachhinein, sagt Lucas, hätte er einfach gar nicht fahren sollen.

Kaum offizielle Zahlen

Die gesammelten Einzelfälle aus den Medien zeigen nur einen kleinen Ausschnitt, die Dunkelziffer ist vermutlich hoch. Welche Fälle tatsächlich auf Ischgl zurückzuführen sind, erfassen in Deutschland die Gesundheitsämter. Der sogenannte Expositionsort wird aber nicht mehr zentral an die zuständigen Gesundheitsministerien und das Robert Koch-Institut weitergeleitet - zu aufwändig, und die Infektionsketten seien mittlerweile nur noch schwer nachvollziehbar, heißt es auf Anfrage bei mehreren Bundesländern.

Einige Zahlen gibt es aber doch. Das Regierungspräsidium Stuttgart schrieb vergangenen Freitag: "Insgesamt wurden dem Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg 101 SARS-CoV-2-Fälle mit Expositionsort Ischgl übermittelt." Nordrhein-Westfalen meldete zum gleichen Zeitpunkt 973 Fälle, die sich auf Tirol zurückführen lassen, immerhin fast 10 Prozent der Gesamtinfektionen im Land. Aus Thüringen hieß es: "Die Gesamtzahl der Fälle in Thüringen beträgt aktuell 349 (Stand 24.03. - 10 Uhr). Davon lassen sich 120 auf das Expositionsland Österreich zurückführen."

Wie hoch die Dunkelziffer tatsächlich sein könnte, lässt eine Sammelaktion des österreichischen Verbraucherschützervereins vermuten. Die Verbraucherschützer erstatteten Strafanzeige gegen Tirols Landeshauptmann Günther Platter, Bürgermeister, Seilbahngesellschaften und weitere Behördenvertreter. In nur fünf Tagen meldeten sich mehr als 2500 Betroffene - die meisten Meldungen kamen aus Deutschland und betreffen die Region Ischgl. Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft Innsbruck wegen eines Corona-Infektionsfalls in Ischgl.