Veterinär zum Fall Tönnies "Im Zweifel müssen Tiere entsorgt werden"
Die Betriebsschließung bei Tönnies wirft den streng durchgetakteten Schweinemarkt durcheinander. Im schlimmsten Fall bedeute das: Tierbeseitigungsanlage, sagt Amtstierarzt Vogel.
tagesschau.de: Welche Auswirkungen hat die Betriebsschließung bei Tönnies auf die Lieferkette?
Holger Vogel: Das muss zwar noch näher untersucht werden, aber sicher ist, dass das deutlich spürbar wird. Das lässt sich nicht verstecken. Es wird eine logistische Herausforderung, die Tiere umzuleiten. Gerade die Schweinezucht ist extrem durchsynchronisiert. Die Tage der Sauen und Ferkel, die dann zu Mastschweinen werden, die sind genau abgezählt. Es kommt zu einem Rückstau.
Holger Vogel ist Präsident des Bundesverbands beamteter Tierärzte. Im Landkreis Vorpommern-Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern ist der promovierte Tierarzt auch für die Veterinär- und Lebensmittelüberwachung zuständig. Dazu gehören etwa Schlachtstätten aber auch Zucht- und Mastbetriebe, in denen die Tiere bis zur Schlachtung herangezogen werden.
tagesschau.de: Was bedeutet dieser Rückstau?
Vogel: Man kann die Ferkel etwa nicht absetzen, sprich von der Sau trennen, weil man nicht weiß, wohin mit den Tieren. Eigentlich kommen die in den Läuferstall, dem sogenannten Flatdeck. Wenn der aber noch voll ist, weil die Tiere dort nicht in den Maststall umgesetzt werden können, dann wissen wiederum die nächsten Sauen nicht, wo sie ferkeln sollen.
Eine Sau trägt 114 Tage. Das ist in den Betrieben genau abgezählt, wie viele Sauen man tragend haben muss, um jeden Ferkelplatz zu belegen. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Wo ein Körper ist, da kann aber kein anderer sein. Das ist wie bei dem Märchen "Der süße Brei". Dieser Prozess kann durch die Betriebsschließung nicht mehr gestoppt werden.
tagesschau.de: Gilt das auch für das Geflügel?
Vogel: Bei dem Geflügel ist es ähnlich aber da kann man schneller reagieren. Die Brutzeit ist mit 21 Tagen kürzer.
tagesschau.de: Wie wirkt sich diese Situation denn auf den Tierschutz aus?
Vogel: Die Haltungsbedingungen verschlechtern sich massiv. Die rechtlichen Vorgaben sind jetzt schon an der Grenze des Machbaren. Ein Mastschwein kommt auf einen Quadratmeter Lebensraum. Die Neigung ist bei vielen da, jetzt schon nicht genügend Stallplätze zu bauen und das auch voll auszuschöpfen und sogar zu überbelegen. Ich schreite als Amtstierarzt ein, wenn der Platz um zehn Prozent überbelegt ist. Dann können wir mit Ordnungswidrigkeitsverfahren und Zwangsgeld tätig werden. Aber hier im Fall Tönnies kommt erschwerend hinzu, dass die Überbelegung durch äußere Zwänge erfolgt, weil die Tiere nicht von den Schlachthöfen wie Tönnies abgenommen werden können.
tagesschau.de: Was passiert dann mit den Tieren, die die Plätze belegen?
Vogel: Man muss die Sorge haben, die Tiere aus Tierschutzgründen zu töten. Das bedeutet, dass das Tier über eine Tierbeseitigungsanlage entsorgt wird. Eine Verwertung des Fleisches kommt nicht in Frage. Diese Tötung will keiner. Davor sträubt man sich.
Eine Notschlachtung kann aber nicht in Betracht kommen. Also, dass das Fleisch noch verwertet werden kann. Das geht in den Ställen nicht. Schon alleine aus Hygienegründen. Die sind darauf nicht ausgelegt. Man könnte noch versuchen, die Tiere in andere EU-Mitgliedstaaten zu transportieren und Schlachtkapazitäten dort nutzen. Die Frage ist aber, ob der Markt sie aufnimmt.
tagesschau.de: Können Sie die Tötung im Notfall anordnen?
Vogel: Ich kann es im Tierseuchenfall anordnen. Das ist hier aber nicht gegeben. Die Tiere sind gesund. Die sind auch nicht von dem Corona-Ausbruch bei Tönnies betroffen. Sie sind ja noch im Mastbetrieb. Eine Tötung zum Tierwohl ist nicht einfach.
tagesschau.de: Über welche Dimension sprechen wir im Fall Tönnies?
Vogel: Das kann ich nur schätzen, aber man kann davon ausgehen, dass täglich 20.000 Tiere geschlachtet werden. Eine Anlage hat ungefähr zwischen 10 und 50.000 Tiere in allen Altersgruppen. Das ist schon eine Größenordnung.
tagesschau.de: Müssen sich Betriebe auf solche Szenarien besser vorbereiten?
Vogel: Die Corona-Pandemie hat so keiner kommen sehen wollen. Daher wurde darüber auch nicht viel nachgedacht. Tönnies ist aber nur ein Teil einer Gesamtentwicklung. Clemens Tönnies hat selbst einmal gesagt "Wir haben die Schraube überdreht". Der steht mit seinem Gesicht ein. Man kann ihn personifizieren. Die anderen Branchenvertreter nicht. Die punktuellen Verbesserungen in den Haltungsbedingungen haben sich auf das Tierwohl auch nicht sehr stark ausgewirkt. Wir sind hier alle gefragt. Es wird viel auf den Preis geschaut und im Supermarkt gekauft statt beim Direktvermarkter. Es ist nicht einfach, da herauszukommen. Man müsste wohl gesellschaftlich umsteuern.
Das Gespräch führte Iris Marx, tagesschau.de