Interview mit Klaus Wowereit "Wir müssen beim Sozialen nachlegen"
Mit fast 90 Prozent Zustimmung wurde Klaus Wowereit in Dresden zum stellvertretenden SPD-Parteivorsitzenden gewählt - nicht allen erging es so gut. Warum er das Wahlergebnis von Andrea Nahles "ungerecht" findet und warum die SPD ausgerechnet "beim Sozialen nachlegen muss", sagt Wowereit im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Die SPD steckt in einer der tiefsten Krisen ihrer Geschichte - und arbeitet jetzt drei Tage ihren Frust auf. Wie schlägt sie sich bisher?
Klaus Wowereit: Wenn man an das desaströse Wahlergebnis und den tiefen Schock der Partei denkt - wirklich gut. Der Parteitag ist gut vorbereitet worden: Sigmar Gabriel und Andrea Nahles reisen schon seit Wochen kreuz und quer durch das Land und haben vor Ort die Diskussion mit fast 6000 Mitgliedern gesucht - da merkt man schnell, wo der Schuh drückt.
tagesschau.de: Reicht das?
Klaus Wowereit auf dem Parteitag: "Sie gewinnen keine Wahlen mit Antworten von gestern."
Wowereit: Eine Analyse um der Analyse wegen reicht sicher nicht. Man muss natürlich kritisch mit sich selbst sein und genau schauen, was schief gelaufen ist. Aber dann muss man auch den Blick nach vorne richten. Und dieses Signal geht bisher von diesem Parteitag aus.
tagesschau.de: Ist es dann nicht besonders ärgerlich, dass der Neustart schon wieder leicht verhagelt wurde? Die neue SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles wurde mit nur 69,6 Prozent der Stimmen gewählt.
Wowereit: Na ja, das sind immer noch fast 70 Prozent. Da würden sich andere freuen, wenn sie ein solches Wahlergebnis bekommen würden. Aber klar - das Ergebnis fällt gegenüber den anderen Wahlergebnissen ab. Ich finde das ungerecht. Andrea Nahles hat im Vorfeld dieses Parteitages wesentlich dazu beigetragen, dass hier jetzt alles so gut läuft. Und sie wird auch künftig eine Kärrnerarbeit leisten, um mit uns allen zusammen die Partei weiter nach vorne zu bringen. Da hätte ein größerer Vertrauensvorschuss sicher nichts geschadet. Das ist nun leider nicht so - aber trotzdem ist es kein Desaster.
tagesschau.de: Sorgt das schlechte Abschneiden von Andrea Nahles nicht gleich für ein Ungleichgewicht in der neuen Parteispitze?
Wowereit: Das glaube ich nicht. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles sind Profis und werden genauso miteinander arbeiten. Außerdem gibt es ja auch noch die Stellvertreter. Wir alle sind gute Teamplayer, da herrscht viel Vertrauen. Alle wissen: keiner will den anderen ausstechen oder sich selbst in den Vordergrund spielen. Hier wird eine ganz neue Offenheit praktiziert.
Während Gabriel 94,2 Prozent der Stimmen bekam, wurde Nahles nur mit 69,9 Prozent gewählt.
tagesschau.de: Was heißt das?
Wowereit: Dass wir kein "closed shop" sein wollen und gar nicht erst den Anspruch erheben, alles zu wissen - so nach dem Motto: Wenn uns die anderen nicht folgen, werden wir grummelig. Alle sind jetzt eingeladen mitzumachen: neben der Bundesspitze auch die Landes- und Regionalverbände, die Ministerpräsidenten, ganz besonders auch die Kommunalpolitiker. Ein breit angelegtes Bündnis - die Partei hat begriffen, dass nur gemeinsam Stärke entstehen kann. Sonst haben wir keine Chance.
tagesschau.de: In seiner Rede hat Sigmar Gabriel die Partei aufgefordert "politische Leitideen" zu entwickeln, um die "Meinungsführerschaft und damit auch die Mehrheitsfähigkeit" in Deutschland zu erreichen. Sie sprechen von einer neuen Diskussionskultur. Ist das nicht alles ein bisschen sehr vage und wenig konkret?
Wowereit: Wir haben ja nun nicht mehr die Notwendigkeit, tagtäglich Regierungsarbeit zu machen. Das ist natürlich ein Nachteil: denn das wollten wir ja eigentlich. Es bietet aber auch die Chance, jetzt wirklich intensiv an Zukunftskonzepten zu arbeiten. Jeder redet beispielsweise über den demographischen Wandel und alle wissen, dass wir da vor riesigen Herausforderungen stehen. Aber die lösen wir doch nicht, wenn wir die Pflegeversicherung um 50 Cent erhöhen. Da müssen viel fundamentalere Antworten her. Die findet man nicht in fünf Minuten und auch nicht auf einem Parteitag. Dafür nehmen wir uns jetzt die Zeit.
tagesschau.de: Aber eine Partei wie die SPD hat doch den Anspruch, auch unmittelbar bevorstehende Wahlen zu gewinnen, oder?
Wowereit: Natürlich. Aber Sie gewinnen keine Wahlen mit Antworten von gestern.
tagesschau.de: Also eine Abkehr vom Bisherigen?
Wowereit: Das sicher nicht. Die SPD hat eine gute Programmatik. Etwa im Bereich Bildung oder auch beim Mindestlohn. Da gibt es viele Themenfelder, die wir nicht neu beackern müssen. Aber wenn es um den Klimawandel geht oder generell um die Frage von Arm und Reich oder wie ein soziales Miteinander künftig aussehen soll: Da müssen wir noch nachlegen - und die SPD wird das auch schaffen.
tagesschau.de: Und in welcher Koalition?
Wowereit: Ich finde es ja sehr schön, dass man uns schon wieder zutraut, regierungs- und mehrheitsfähig zu sein. Doch das ist momentan wirklich nicht unser Hauptproblem. Es geht darum, wie sich die SPD positioniert - Automatismen für Regierungsbündnisse gibt es da keine. Aber auch keine Tabus.
tagesschau.de: Hat sich Sigmar Gabriel mit seiner gestrigen Rede schon jetzt die nächste Kanzlerkandidatur gesichert?
Wowereit: Das ist heute nicht das Thema. Ohne Frage ist Sigmar Gabriel einer der herausragenden Politiker Deutschlands. Mit seiner fulminanten Rede hat er sehr deutlich gemacht, dass die SPD kämpfen und auch wieder führen will. Er persönlich auch - und dabei unterstützen wir ihn.
Das Gespräch führte Niels Nagel, tagesschau.de.