Proteste am Wochenende Warum die Demo bei Lützerath eskaliert ist
Viele Verletzte und gegenseitige Gewaltvorwürfe: Aktivisten kritisieren den Einsatz der Polizei bei Lützerath. Die Polizei wirft den Demonstrierenden vor, sie hätten die Situation eskalieren lassen. Was ist bisher bekannt?
Wie viele Menschen haben am Samstag demonstriert?
Die Angaben zu den Teilnehmerzahlen gehen weit auseinander. Nach Polizei-Schätzungen kamen rund 15.000 Menschen zur Demonstration am Samstag. Der Veranstalter spricht von rund 35.000 Teilnehmenden.
Keine ungewöhnliche Abweichung, sagt Tobias Singelnstein, Polizeiforscher an der Goethe-Universität Frankfurt. "Die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen. Denn die Schätzung ist sehr schwierig", erklärt er. "Die Polizei schätzt in der Regel konservativer, ein Veranstalter eher euphorisch."
Wann ist der Einsatz eskaliert?
Zwischen Polizei und Veranstaltern war ein Demonstrationszug oberhalb des Dorfes Keyenberg verabredet. Schon zu Beginn der Demonstration verließen aber etliche Klimaaktivisten den abgesprochenen Weg und näherten sich der Abbruchkante und dem abgesperrten Ort Lützerath.
WDR-Journalist Frederik Fleig war vor Ort. "Als dort die letzten großen Polizeiketten durchbrochen wurden, gleichzeitig an mehreren Seiten, ist viel Gewalt ausgebrochen", erzählt er. "Pfefferspray, Schläge, Leute im Matsch." Vor der Gewaltanwendung durch die Polizei habe es aber viele Warnungen an die Demonstrierenden gegeben.
Wie gewalttätig war der Polizei-Einsatz?
Schlamm, Steine und Böller flogen auf die Polizei, die schlug mit Stöcken auf Demonstranten ein. Bilder und Videos des Polizeieinsatzes fluteten die sozialen Medien. Auf einer Pressekonferenz der Aktivisten am Sonntag erhob Demonstrations-Sanitäterin Iza Hofmann schwere Vorwürfe: "Hierbei wurde auf alle Körperregionen gezielt, in allen Körperregionen hatten wir Brüche, vorzugsweise hatten wir allerdings Kopfverletzungen. Die Polizei hat also nicht nur in Einzelfällen, sondern systematisch auf den Kopf von Aktivistinnen und Aktivisten geschlagen."
NRW-Innenminister Herbert Reul verteidigte das Vorgehen der Polizei und nannte es "hochprofessionell". Videos würden nun überprüft, außerdem Einzelfälle, die bereits aufgefallen sein. "Manchmal gibt es Fälle, da haben wir so zwei, drei (…), wo wir auch den Eindruck haben, dass ein Polizist sich nicht richtig verhalten hat. (…) Wenn wir den Nachweis haben, dass Polizisten Fehler begangen haben, müssen sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden."
Reul weist daraufhin, dass sogenannter ziviler Ungehorsam kein Vorwand für versteckte Gewalt und Straftaten sein dürfe. Der vorab mit den Veranstaltern abgesprochene Weg sei nicht eingehalten worden, dann habe die Polizei agiert.
Welche Gewalt ging von den Aktivisten aus?
In Videos sieht man, wie einige Aktivisten mit Schlamm werfen, außerdem wird Pyrotechnik eingesetzt. Auch Steine wurden auf Polizisten geworfen. Reul sprach am Sonntagabend im Ersten auch von Molotow-Cocktails. Dies hat sich für die Demonstration am Samstag bisher nicht bestätigt.
Wie viele Menschen wurden verletzt?
Am Montag sprach die Initiative "Lützerath lebt" von mindestens 90 verletzten Demonstrierenden. Auf einer Pressekonferenz am Sonntag hatte Demonstrations-Sanitäterin Iza Hofmann auch von "einigen lebensgefährlich verletzten Personen" berichtet.
Dem widersprach am Sonntag die Polizei. Niemand sei lebensgefährlich verletzt worden. Neun Aktivisten seien am Sonntag mit dem Rettungswagen in Krankenhäuser gebracht worden. Eine Gesamtzahl der verletzten Demonstrierenden nannte die Polizei nicht.
Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) sagte am Montag auch Florian Özcan, Aktivist und Sprecher von "Lützerath lebt": "Es gibt zum Glück keine lebensgefährlich Verletzten." Es gehe nicht darum, "Sachen schlimmer darzustellen, als sie waren", sagte Özcan weiter. Die Sanitäterin habe ihren subjektiven Eindruck weitergegen und kein gutes diagnostisches Gerät zur Verfügung gehabt, erst im Krankenhaus habe die Schwere der Verletzungen der Betroffenen abgeklärt werden können.
Reul nannte gegenüber der "Bild" die Zahl von 102 verletzten Polizisten, neun seien derzeit nicht dienstfähig. Einige von ihnen seien aber nicht durch die Demonstranten verletzt worden. "Einige Verletzungen rühren schlicht von den örtlichen Gegebenheiten."
Gibt es eine Aufarbeitung?
In einer Pressekonferenz am Montag sprach NRW-Innenminister Reul von einer Überprüfung der Videos. Außerdem werde man aktiv werden, wenn Anzeigen eingehen würden, zu einer Anzahl bereits vorliegender Anzeigen könne er noch keine genauen Angaben machen.
Die einzelnen Vorfälle müssten ermittelt werden, so Kriminologe Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg. "Herr Reul sagt ja auch, dass er ermitteln lassen will - ich wäre sehr dafür, dass er diesmal den Mut hat, auch unabhängige Stellen ermitteln zu lassen und die Ermittlungen nicht durch die eigene Polizei zu führen."