Kritik an Medien Soziale Themen oft "vergessene Nachrichten"
Nachrichten, die es nicht in die Nachrichten schaffen - eine Jury wählt jedes Jahr Themen, die ihrer Ansicht nach nicht ausreichend in den Medien berücksichtigt werden. Unter den aktuellen "Top Ten" finden sich viele soziale Themen.
Die "Top Ten der Vergessenen Nachrichten 2022" werden von sozialen Themen dominiert. Das vergessene Topthema Nummer 1 war nach Ansicht der Jury aus Wissenschaftlerinnen und Journalisten die schleichende Abschaffung der sogenannten Lernmittelfreiheit in den Schulen, wie die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) in Köln mitteilte. Auf Platz 2 folgen Menschen mit fehlendem Krankenversicherungsschutz und auf Platz 3 pflegende Kinder und Jugendliche. Die Top-Ten-Liste wird von der Initiative in Kooperation mit der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks veröffentlicht.
Die Herausgeber argumentieren, dass viele aus ihrer Sicht wichtige Themen in den Medien zu wenig oder gar nicht vorgekommen. Das habe zuletzt an der Corona-Pandemie gelegen, "aber auch an Strukturen in den Medien, die dazu führen, dass wichtige Themen trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz nicht auf der Medienagenda auftauchen".
Schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit
Top-Beispiel dafür war laut Jury die schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit. Schulbildung dürfe nicht vom Geldbeutel abhängen, forderten immer wieder Initiativen und Politiker. Trotzdem gebe es bereits in vier Bundesländern gar keine Lernmittelfreiheit mehr, also vor allem keine kostenfreien Schulbücher mehr. Damit steige der Druck auf andere Bundesländer, diese Mittel ebenfalls zu kürzen. "Wir sind der Meinung, dass über diesen Punkt, weil er so unfassbar viele Menschen in Deutschland ganz massiv angeht, sehr viel mehr berichtet werden sollte", sagte INA-Geschäftsführer Hektor Haarkötter.
Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) und der Deutschlandfunkhaben ihre diesjährigen "Top Ten der vergessenen Nachrichten" vorgestellt:
1. Die schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit
2. Lücke im deutschen Gesundheitssystem: Unzählige Menschen nicht krankenversichert
3. Pflegende Kinder und Jugendliche
4. Palliativversorgung für Wohnungslose
5. Keine Macht den Räten? Betriebsrätemodernisierungsgesetz fast unbekannt
6. Nachhaltige Autobahn aus Asche
7. Sexismus in politischen Parteien
8. Das Aussterben der Schmetterlinge
9. Nachhaltige Bauinnovation durch "Lego"-Konstruktion und Baumaterial aus verwertetem Kunststoff und Reststoffen
10. Psychischer Missbrauch im Tanzsport
Die Lage von Menschen ohne Krankenversicherungsschutz wählte die Jury auf den zweiten Platz. Betroffen seien etwa ehemalige Selbstständige und Einwanderer, die nicht offiziell gemeldet seien. Gerade in einer Pandemie sei der Versicherungsschutz wichtig. Mit dem dritten Platz möchte die Jury auf knapp eine halbe Million Kinder und Jugendliche aufmerksam machen, die an der Pflege von Angehörigen beteiligt seien. Sie leisteten einen enormen Dienst für die Gesellschaft, würden in der öffentlichen Diskussion aber kaum wahrgenommen.
"Gerade in der aktuellen Situation sieht man, wie schnell Geschichten von der Agenda verschwinden können, weil einige wenige Themen die Berichterstattung dominieren“, kritisierte Haarkötter. Man könne in diesem Zusammenhang schon fast von Themen-Populismus sprechen.
Schmetterlinge und Autobahnen aus Asche
Zu weiteren vergessenen Themen kürte die Jury beispielsweise die fehlende Palliativversorgung von Wohnungslosen sowie das Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Auch die Themen nachhaltige Autobahnen aus Asche, das Verschwinden von Schmetterlingsarten und Sexismus in politischen Parteien hält die Jury für medial vernachlässigt. Wobei Sexismus-Vorwürfe jüngst bei der Linkspartei zu einer Affäre und damit zu viel Berichterstattung führten.
Vorschläge werden von Studierenden geprüft
Die INA stellt einmal jährlich gemeinsam mit der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks eine "Top Ten" von medial vernachlässigten Themen zusammen. Die Themen hat auch in diesem Jahr wieder eine Jury aus Medienwissenschaftlern, Journalisten und Experten ausgewählt. Ausgangspunkt sind Vorschläge aus der Bevölkerung. Per E-Mail, Post oder Webformular können bei der INA vernachlässigte Nachrichten vorgeschlagen werden.
Die INA ist ein gemeinnütziger Verein, dem unter anderem Medienwissenschaftler, Studierende und Journalisten angehören. Die Vorschläge werden von studentischen Rechercheteams an mehreren Hochschulen in Deutschland geprüft. Begleitet von Dozentinnen und Dozenten ermitteln die Studierenden, ob die vorgeschlagenen Nachrichten sachlich richtig und zutreffend sind und ob sie tatsächlich von den Medien vernachlässigt wurden. Die Jury der INA beurteilt anschließend die Relevanz der Themen und wählt daraus die "Top Ten" der vernachlässigten Nachrichten. Seit Anfang 2015 besteht eine Kooperation mit der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks.