interview

Kurdenkonflikt in Deutschland "Die Lage spitzt sich zu"

Stand: 06.11.2016 03:19 Uhr

Das harte Vorgehen von Präsident Erdogan gegen die kurdische PKK, prokurdische Politiker und Institutionen spaltet nicht nur die Türkei. Auch in Deutschland droht sich der Konflikt zwischen Kurden und Erdogan-Anhängern zu verschärfen, warnt Türkei-Experte Ahmet Senyurt im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: In der Nacht auf Freitag erfolgten die Festnahmen der HDP-Politiker in der Türkei. Am Tag darauf gab es schon eine große Demonstration von Kurden in Köln. Wie ordnen Sie das ein? Wird den Kurden der Protest in Deutschland umso wichtiger, je weniger Raum ihnen in der Türkei bleibt?

Ahmet Senyurt: Wir erleben gerade das Beispiel eines Konfliktimportes wie in den 1990er-Jahren. Damals verbrannten sich Kurden auf deutschen Autobahnen, um auf ihre Sache aufmerksam zu machen. Jede Aktion der Türkei gegen die verbotene kurdische Bewegung PKK und ihren legalen Arm führt zu Protesten, unter Umständen sogar zur Gewalt in Europa, auch in Deutschland. Dieser Konfliktimport radikalisiert perspektivisch beide Gruppen, sowohl die Kurden als auch die staatstreuen Türken.

Zur Person
Ahmet Senyurt ist Journalist, Türkei-Kenner und langjähriger Beobachter der türkischen und kurdischen Szene in Deutschland. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Einwanderung, Integration, und islamistische Netzwerke in Deutschland. Der studierte Volkswirtschaftler wurde 1960 in Istanbul geboren, mit sieben Jahren kam er nach Deutschland. Senyurt wohnt und arbeitet in Köln.

tagesschau.de: Knapp 60 Prozent der Türken in Deutschland haben die von Erdogan geführte AKP-Partei gewählt. Wie ist deren Einstellung?

Senyurt: Sie sehen die kurdische Bewegung, sowohl die legale als auch die PKK, als Terrorbewegung. Jeder, der sich der kurdischen Sache annimmt, von Solidarität bis zur aktiven Teilnahme, ist für diese Kreise ein Terrorist. Entsprechend reagiert der türkische Staat und entsprechend reagieren die Erdogan-Anhänger in Deutschland.

tagesschau.de: Erdogans "Säuberungen" gehen immer weiter, seine Kurdenpolitik geht über die PKK hinaus und erreicht eine gewählte Oppositionspartei im Parlament. Kann die Unterstützung für Erdogan bei seinen Anhängern in Deutschland irgendwann bröckeln?

Senyurt: Ich glaube eher, dass sich die Situation zuspitzt. Das Problem ist, dass die AKP und Erdogan in der Türkei alternativlos sind. Angesichts der Situation und dieser politischen Zuspitzung werden der Staatschef und die AKP immer stärker zur Symbolfigur für staatstreue Türken, auch für jene, die in Europa und in Deutschland nicht angekommen sind.

tagesschau.de: Bei der Kurden-Demonstration in Köln ist es friedlich geblieben. Müssen wir uns aber darauf einstellen, dass diese Zuspitzung demnächst hier bei uns zu Gewalt führen kann?

Senyurt: Da muss man abwarten. Die kurdische Seite ist sicherlich schlau genug, um zu erkennen, dass momentan offensichtlich der Schwarze Peter in Ankara liegt. Das versucht sie natürlich propagandistisch auszunutzen. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob es zur Gewalt kommt oder ob politische Mittel genutzt werden.

tagesschau.de: Wir erleben eine skurrile Situation: Die türkische Regierung kritisiert Bundeskanzlerin Angela Merkel genauso hart wie kurdische Demonstranten in Köln sie kritisieren, nur aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven. Kann sie es bei diesem Thema niemandem Recht machen?

Senyurt: Die Kanzlerin alleine sicherlich nicht. Das ist eine europäische Herausforderung. Die Europäer müssen jetzt klar Stellung beziehen, was sie eigentlich im Nahen Osten und in der Türkei wollen. Die Zuspitzung, auch unter den deutschen Türken und Kurden, nimmt dramatisch zu und Appelle reichen nicht mehr. Es muss gehandelt werden.

Ein Modell könnte zum Beispiel sein, dass man AKP-Abgeordnete, die hier in Europa Propaganda machen wollen, nicht mehr einreisen lässt. Das wäre ein Signal, und das gleiche Signal müsste man auch bei kurdischen Aktivisten setzen.

Das Interview führte Birand Bingül, WDR Köln, für tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 05. November 2016 um 23:30 Uhr.