Trauma nach der Loveparade "Fliehe, kämpfe - oder du stirbst"
Sie wollten feiern, tanzen, Spaß haben. Für 19 Menschen endete die Loveparade mit dem Tod, viele weitere erlitten zum Teil schwere Verletzungen. Viele können auch zwei Tage danach nicht begreifen, was in Duisburg passiert ist, sie sind traumatisiert. Im Interview mit tagesschau.de spricht Trauma-Experte Dr. Christian Lüdke über die Belastungen der Besucher, Angehörigen, Veranstalter und jedes Einzelnen von uns, der die Bilder gesehen hat.
tagesschau.de: Besonders betroffen von dem Unglück sind die Teilnehmer der Loveparade und die Angehörigen der Verstorbenen. Welche Maßnahmen müssen denn nach so einem Erlebnis sofort für diese Menschen ergriffen werden?
Christian Lüdke: Ganz wichtig für die Betroffenen ist, dass sie sehr viel Abstand und Ruhe haben. Das heißt sie mit Menschen zusammenzuführen, die für Sicherheit stehen und ihnen ganz viel Wertschätzung entgegenbringen. So können die natürlichen Selbstheilungskräfte in Gang gesetzt werden.
tagesschau.de: Mit welchen Symptomen hat denn ein traumatisierter Mensch zu kämpfen?
Lüdke: Am Anfang stehen sie unter einem massiven Schock, der zehn bis 14 Tage andauern kann. Einige verstummen, einige sind gereizt, andere werden depressiv. Sehr viele haben belastende Erinnerungsbilder. Es ist wie ein Kopfkino, das sie das Geschehene immer und immer wieder erleben lässt. Sie sind sehr stark übererregt, sie haben massive Schlafstörungen. Viele haben auch körperliche Reaktionen, das heißt Spannungszustände, Schwindelgefühle oder eine starke Übelkeit.
tagesschau.de: Wie kommt es, dass sich solche Ereignisse und Erlebnisse so hart in unser Gehirn einbrennen?
Lüdke: Diese Ereignisse brennen sich so stark ein, weil die Menschen in der Regel keine vergleichbaren Erfahrungen haben und plötzlich mit einer Situation konfrontiert werden, die sie so noch nie erlebt haben oder von der sie sich gar nicht vorstellen konnten, dass sie jemals in eine solche Situation gelangen. Dann sind Menschen sehr hilflos, sie haben einen völligen Kontrollverlust. Das grundlegende Sicherheitsgefühl ist schlagartig verloren. Außerdem spielen gehirnpsychologische Prozesse eine Rolle. Zum Beispiel werden körpereigene Opiate freigesetzt. Das führt dazu, dass Denken, Fühlen und Handeln voneinander entkoppelt werden und das Ganze sich in bestimmte Bereiche des Gehirns einbrennt und eingräbt.
tagesschau.de: Einige Augenzeugen haben berichtet, dass sie über Menschen gelaufen sind, die schon am Boden lagen. Warum verhält sich der normale Mensch in solch einer Situation so, obwohl er sonst auch zu Hilfe bereit wäre?
Lüdke: Menschen in einer solchen Situation befinden sich in einer Ausnahmesituation und sie reagieren nicht so, wie sie normalerweise reagieren würden. Aufgrund der großen Enge, der massiven Bedrohung, schalten Menschen auf einen natürlichen, angeborenen Schutzmechanismus um und der lautet: "Fliehe, kämpfe oder du stirbst". Das kann leider dazu führen, dass andere Menschen verletzt oder auf dem Boden liegende überrannt werden.
tagesschau.de: Hätte man die beginnende Panik als Beobachter erkennen können?
Lüdke: Die Panikforscher gehen davon aus, dass eine Panikbewegung entstehen kann, wenn sich sieben Menschen auf einem Quadratmeter befinden. Als Außenstehender kann man das sehen: wenn man über Kameras oder vom Hubschrauber erkennt, dass die Dichte so eng ist, dass kein Entkommen mehr möglich ist, muss man reagieren. Dann muss man alle Tore öffnen, um das Ganze zu entzerren.
tagesschau.de: Brennt sich so eine Massenpanik wie bei der Loveparade in unser aller Gedächtnis ein?
Lüdke: Solche Bilder brennen sich sehr stark in die Köpfe und in die Seelen der Menschen ein; auch derjenigen, die es nur am Fernsehen betrachtet haben. Es gibt dazu seit den Terroranschlägen in New York Studien, die belegen, dass bei Fernsehzuschauern genauso schwere Traumatisierungen ausgelöst werden können wie bei den direkt Betroffenen. Das hat etwas mit unseren Spiegelnervenzellen zu tun. Unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob wir selber vor Ort sind oder von außen zusehen. Von daher kann es bei sehr vielen Menschen zu schleichenden Traumatisierungen kommen. Es kann ein sehr starkes Vermeidungsverhalten entstehen, sich eben nicht zu solchen Großveranstaltungen zu begeben. Möglicherweise entwickeln sich auch Ängste und Depressionen.
tagesschau.de: Was geht in denen vor, die sich gerade zu verantworten haben?
Lüdke: Die Veranstalter werden sicherlich nach Erklärungen ringen und möchten Vieles ungeschehen machen. Einige werden sicherlich Schuldgefühle haben und werden versuchen, das Ganze möglicherweise zu vertuschen, zu verschleppen, um jede Schuld von sich zu weisen. Denn wer die Verantwortung übernimmt, müsste das Leid der Betroffenen mittragen. Das ist für viele eben nicht zu bewältigen.
tagesschau.de: Traumatische Erlebnisse nach Kriegen sind schon sehr gut erforscht. Wie ist bei Massenpaniken der Kenntnisstand über das Leben der Menschen nach solchen Ereignissen?
Lüdke: Es gibt mittlerweile sehr gute, wissenschaftliche Ergebnisse bei Großschadensereignissen und Naturkatastrophen. Wenn die Ursache einer höheren Gewalt zugeschrieben werden kann, haben Menschen sehr gute Verarbeitungsmenchanismen, denn es fehlt die Sinnlosigkeit der Tat und des Todes. In diesem Fall sind die Traumatisierungen der Betroffenen wesentlich stärker, weil das Ganze hätte verhindert werden können. Gerade für die Angehörigen, die Tote zu beklagen haben, sind zwei Lebensgesetze gebrochen: Die Kinder sterben vor den Eltern, und die Kinder sterben eines nicht-natürlichen Todes. Diese Eltern sind ein Leben lang untröstlich.
tagesschau.de: Kann so ein Trauma komplett verschwinden?
Lüdke: Ein solches Trauma kann verschwinden. Die Menschen sind in der Lage jedes, noch so belastende Ereignis ganz alleine zu verarbeiten, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Ich brauche viel Ruhe, viel Abstand, ich brauche viel Wertschätzung. Ich brauche mindestens einen Menschen in der Nähe, der Hoffnung und Zuversicht vermittelt. Die Zeit und die Natur sind die besten Heiler. Für viele Menschen wird das Leben aber nicht mehr so sein, wie es vorher gewesen ist. Aber das Leben nach den traumatischen Ereignissen muss nicht unbedingt schlechter sein als das Leben vorher. Viele durchlaufen eine persönliche Reifung, sie werden achtsamer, sie werden sehen, was wirklich wichtig ist im Leben. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass das Leben innerhalb von wenigen Sekunden zerbrechen kann. Und das führt dazu, dass viele Menschen sicherlich bewusster leben können.
Die Fragen stellte Robert Kindermann für tagesschau.de.