Kriminologe zu sexualisierter Gewalt "Strafverschärfung allein bringt wenig"
Im Kampf gegen Kinderpornografie sollen härtere Strafen kommen. Das alleine "schreckt niemanden ab", sagt Kriminologe Rüdiger. Was hilft und welches Bundesland ein Vorbild ist, erklärt er im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Justizministerin Christine Lambrecht hat ein Reformpaket vorgelegt, in dem sie die Strafen für sexualisierte Gewalt an Kindern verschärfen will. Bringt das in der Praxis etwas?
Thomas-Gabriel Rüdiger: Eine Strafverschärfung alleine bringt in der Regel wenig. Wenn man nicht auch gleichzeitig die Strafverfolgungswahrscheinlichkeit erhöht. Jeder ist schon mal über eine rote Ampel gegangen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass das geahndet wird, doch sehr gering ist. Man bleibt aber eher stehen, wenn man die Polizei sieht und Angst vor einer Strafe hat.
So ist es bislang auch bei sexualisierter Gewalt, gerade im Netz. Da wird in Foren und Netzwerken der Eindruck erweckt: Wir sind so viele, das macht doch jeder und die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden, ist auch eher gering. Da schreckt auch eine höhere Strafe nicht jeden ab. Wenn aber die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden steigt, dann können auch höhere Strafandrohungen einen Einfluss haben.
Ich finde es aber dennoch wichtig und richtig, auch als gesellschaftliches Signal, darüber zu diskutieren, dass sexualisierte Gewalt an Kindern kein "Vergehen" mehr sein soll, sondern ein "Verbrechen". Das gleiche gilt für den Begriff des "sexuellen Missbrauchs". Es ist gut, den jetzt in "sexualisierte Gewalt" zu ändern. Das ist vielen zu Recht aufgestoßen, weil es suggeriert, es gäbe einen rechtmäßigen "Gebrauch" von Kindern.
Thomas-Gabriel Rüdiger ist Cyberkriminologe am Institut für Polizeiwissenschaft der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Seine Promotion verfasste er zum Thema Cybergrooming.
"Es braucht mehr Personal"
tagesschau.de: Wie erhöht man die Strafwahrscheinlichkeit?
Rüdiger: Das schafft man nur durch mehr Personal. Das löst das Gefühl eines flächendeckenden Verfolgungsdrucks bei den Tätern aus, sowohl im Darknet als auch beispielsweise in Sozialen Medien. Dieser Punkt ist in dem Reformpaket immerhin angesprochen: Die Ministerin will auf ihre Kollegen in anderen Ressorts und den Ländern einwirken, dass personelle und sachliche Mittel aufgestockt werden. Ob das dann tatsächlich passiert, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Das ist aber der entscheidende Punkt: Dass gerade bei der Strafverfolgung im Netz deutlich aufgestockt werden muss. Dazu könnte man frei gewordene Ressourcen umschichten.
"NRW hat nicht mehr Fälle - sie decken mehr auf"
tagesschau.de: Was heißt das konkret?
Rüdiger: In den letzten Jahren sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik die registrierten Delikte um etwa eine Million zurückgegangen. Das sind etwa 15 Prozent, was eigentlich auch entsprechende Ressourcen verfügbar machen müsste. Das heißt, dieses Personal könnte für die Strafverfolgung im Netz geschult und eingesetzt werden, um dort mehr Fälle aktiv zu suchen.
Das ist genau das, was Nordrhein-Westfalen seit einiger Zeit im Bereich sexualisierte Gewalt an Kindern macht. Und man kann ihnen das nicht hoch genug anrechnen. Denn, wo intensiv gefahndet wird, dort erhöht sich natürlich auch die Statistik - das sogenannte Hellfeld - solcher Delikte. Und das ist politisch schwer auszuhalten, wenn plötzlich deutlich mehr solcher Fälle auftauchen. Aber es ist ja nicht so, dass NRW mehr von diesen Fällen hat, sie decken eben nur mehr davon auf, zerren sie aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld. Und das müssten alle anderen Länder auch tun.
Andererseits muss man sich auch klarmachen, dass es selbst mit mehr Personal immer schwierig blieben wird, diese Straftaten vollumfänglich zu verfolgen.
"Verbrechen machen vor Grenzen nicht Halt"
tagesschau.de: Woran liegt das?
Rüdiger: Bei den 30.000 Hinweisen auf Tatverdächtige in Zusammenhang mit dem Missbrauchskomplex Bergisch-Gladbach handelt es sich ja vermutlich nicht ausschließlich um deutsche Tatverdächtige, sondern das sind globale Netzwerke von Tätern. Die müssen ja heute zum Austausch nicht einmal mehr die Sprache des anderen verstehen, weil es automatisierte Übersetzungsprogramme gibt.
Und diese internationalen digitalbasierten Vernetzungen zu verfolgen ist immer schwierig, weil Ermittlungsbehörden unterschiedlicher Länder miteinander kooperieren müssen. Und dann kommt noch hinzu, dass auch die Straftatbestände in jedem Land anders sind.
In einem Fall gab es einen österreichischen Täter, der serbische, deutsche, Schweizer und österreichische Kinder dazu zwang, vor der Webcam sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen. Diese digitale sexuelle Gewalt an Kindern macht an den Grenzen nicht Halt. Da bräuchte es einen internationalen oder zumindest europäischen Ansatz, das Strafrecht zu harmonisieren und in der Zukunft vielleicht ein eigenes europäisches oder gar globales digitales Sexualstrafrecht zu entwickeln.
"Schon Versuch strafbar"
tagesschau.de: Welche Verbesserungen sehen Sie durch das Reformpaket?
Rüdiger: Es wurden einige Dinge aufgegriffen, die in der Praxis tatsächlich zu Problemen führen. Beispielsweise, dass Gleichaltrige sich strafbar machen können, wenn sie Bildmaterial von einvernehmlichen sexuellen Handlungen aufnehmen. Wenn zwei 13-Jährige sich Filme von sich zusenden und einer von beiden wird dann zuerst 14, macht der sich strafbar wegen Besitzes von kinderpornografischem Material. Da soll es nun offenbar Regelungen geben, die solche freiwilligen Handlungsweisen unter Gleichaltrigen berücksichtigen und nicht kriminalisieren.
Auch dass schon der Versuch des Zeigens pornografischer Inhalte im Internet strafbar wird, wenn der Täter im Glauben auf ein Kind einzuwirken in Wirklichkeit mit einem Polizisten kommuniziert, finde ich sinnvoll.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.