Rudolf Seiters über die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge "Er kann ruhig weiter Genschers Balkon heißen"
Der Halbsatz hat Geschichte geschrieben: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Bei Genschers Prager Balkon-Rede vor 20 Jahren stand Kanzleramtsminister Seiters im Schatten der Scheinwerfer neben ihm. Im Interview mit tagesschau.de erzählt er von den zähen Verhandlungen mit der DDR.
tagesschau.de: 20 Jahre nach den Ereignissen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag ist der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in aller Munde: Genschers Rede, Genschers Balkon. War die Ausreise der DDR-Flüchtlinge allein sein Erfolg?
Rudolf Seiters: Es war ein gemeinsamer Erfolg der Bundesregierung. Und in den Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR war nicht das Außenministerium federführend, sondern das Kanzleramt. Denn die DDR galt ja nicht als Ausland.
Der CDU-Politiker Rudolf Seiters war unter Kanzler Helmut Kohl von 1989 bis 1991 Chef des Kanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben. Der gelernte Jurist führte in der Wendezeit die Verhandlungen mit der DDR-Regierung. Seiters ist seit November 2003 Präsident des Deutschen Rotes Kreuzes.
tagesschau.de: Sie haben mit der DDR verhandelt, nicht Genscher?
Seiters: Nach dem 8. August, als ich die Ständige Vertretung in Ost-Berlin wegen Überfüllung schließen musste, habe ich ununterbrochen in Verhandlungen mit der DDR-Regierung gestanden. Am 18. August war ich bei der DDR-Regierung, bei einer Delegation unter Leitung des stellvertretenden Außenministers Herbert Krolikowski, der aber völlig uneinsichtig war. Er verlangte, dass wir die Flüchtlinge auf die Straße schicken. Da habe ich nur gesagt: Wir bauen keine Mauern um unsere Botschaften und schicken niemanden auf die Straße.
tagesschau.de: Sie sind dann selbst zu den Flüchtlingen in der Ständigen Vertretung gefahren...
Seiters: Ja. Eine sehr bewegende Begegnung. Und in den folgenden Tagen flohen dann tausende von DDR-Bürgern in die Botschaften in Prag und Warschau. In diesen Wochen stand das Kanzleramt, stand ich in ständigem Kontakt mit der DDR-Führung, vor allem mit Rechtsanwalt Wolfgang Vogel und Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski.
tagesschau.de: Die Arbeitsteilung war also: Kanzleramtsminister Seiters erledigt die Verhandlungsarbeit hinter den Kulissen, Außenminister Genscher fährt hinterher die Lorbeeren ein?
Seiters: Ich mag dieses Konkurrenzdenken nicht. Ich hatte auch nie ein Problem damit, dass Hans-Dietrich Genscher auf dem Prager Balkon die Botschaft - die wir ja gemeinsam brachten - verkündete.
tagesschau.de: Genscher schon. Er spricht über die Ereignisse in Prag auch schon mal in der Ich-Form statt in der Wir-Form.
Seiters: Das stimmt. Kürzlich sagte er in einem Interview, dass er nach Prag geflogen sei und den Menschen in der Botschaft sagte: "Ich bin zu Ihnen gekommen,..." Das hat dann Nachfragen von Journalisten hervorgerufen. Und ich habe dann wahrheitsgemäß berichtet, wie es damals wirklich gewesen ist.
tagesschau.de: Also ist Genschers Balkon auch Seiters Balkon?
Seiters: Er kann ruhig weiter Genschers Balkon heißen. Aber an der Arbeit und an dem Erfolg hat das Bundeskanzleramt mindestens den gleichen Anteil wie das Außenministerium.
tagesschau.de: Welcher Blick bot sich Ihnen an jenem Abend vom Balkon?
Seiters: Das erste Bild, das ich nie vergessen werde, sind die Menschen, die auf den Treppen zum Büro des Botschafters saßen. Dichtgedrängt. Wir spürten ein großes Vertrauen, obwohl die Menschen ja nicht wussten, welche Nachricht wir überbrachten.
tagesschau.de: Und dann sind Genscher und Sie auf den Balkon getreten...
Seiters: Das war in der Tat eine nicht wiederholbare emotionale Situation. Es war dunkel, ein Blick im Schatten auf die vielen tausend Menschen im Botschaftsgarten, auf die Zelte des Roten Kreuzes. Und dann die Reaktion der Flüchtlinge auf die Worte von Genscher - es war unglaublich.
Der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkünden den DDR-Flüchtlingen in der Botschaft in Prag ihre Ausreise.
tagesschau.de: War Ihnen damals die historische Dimension der Ereignisse bewusst?
Seiters: Nein. Wir haben auch am 30. September nicht daran geglaubt, dass wir wenige Wochen später den Fall der Mauer und ein gutes Jahr später die deutsche Einheit erleben würden.
tagesschau.de: Was war das für eine Stimmung in jenen turbulenten Wochen?
Seiters: Es gab ja zunächst keine Bewegung in den Standpunkten der DDR. Sie war der Meinung, wir verletzten internationales Recht und die Flüchtlinge seien Menschen, die ihr Vaterland verrieten.
tagesschau.de: Welche Druckmittel hatten Sie?
Seiters: Die bevorstehenden Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober mit dem Besuch von Michail Gorbatschow und die Macht der Bilder. Die DDR wollte natürlich nicht, dass die Feierlichkeiten von den bewegenden Bildern aus Prag, die ja um die Welt gingen, überschattet wurden.
"Eine Garde von alten Männern"
tagesschau.de: Und finanziell? Die DDR war schließlich pleite.
Seiters: Ja. Sie hatte finanzielle Wünsche an uns. Aber ohne eine Lösung der Flüchtlingsfrage war daran überhaupt nicht zu denken. Und das haben wir auch klar gesagt. Und damit waren wir letztendlich auch erfolgreich.
tagesschau.de: Wie war die Stimmung in den Gesprächen mit den Verhandlungsführern der DDR?
Seiters: Bei den Gesprächen Mitte August trafen wir auf eine Garde von alten Männern, die überhaupt nicht merkten, was um sie herum passierte. Die konnten auch mit Glasnost und Perestroika gar nichts anfangen. Später - mit Schalck-Golodkowski - hatte ich sehr offene und faire Gespräche. Genauso mit Horst Neubauer, dem Ständigen Vertreter der DDR in Bonn. Ab September bemerkte ich aber eine zunehmende Nervosität bei der DDR-Führung, insbesondere nachdem Ungarn am 10. September die Grenze geöffnet hatte.
"Es war nicht alles falsch in der DDR"
tagesschau.de: Was sagen Sie Menschen, die sich die DDR zurückwünschen?
Genschers Worte auf dem Balkon der Botschaft sind in die Geschichte eingegangen.
Seiters: Natürlich gibt es Menschen, die unterwegs sind auf dem Pfad der Ostalgie und die immer noch die Errungenschaften des Sozialismus preisen. Das ist aber eine Minderheit. Wir dürfen nie vergessen, was die DDR war: ein Unrechtsstaat, der seine 17 Millionen Bürger mit Todesschüssen und Stacheldraht an einem freien Leben gehindert hat.
tagesschau.de: Aber sie bot zum Beispiel Sicherheit vor Arbeitslosigkeit...
Seiters: Natürlich war die Umstellung von einer Kommandowirtschaft in eine Marktwirtschaft ein schwieriger Übergang für die Menschen. Und es war auch nicht alles falsch in der DDR. Aber es war eben doch ein Unrechtsstaat.
tagesschau.de: Sie sind heute in Prag. Sie stehen mit Herrn Genscher wieder auf dem legendären Balkon. Was sagen Sie ihm, 20 Jahre später?
Seiters: Ich hoffe, dass er die Ereignisse von damals genauso sieht wie ich und das auch sagt. Dass dies nämlich eine Gemeinschaftsleistung war. Ich hoffe, dass er in der Wir-Form spricht und nicht in der Ich-Form. Denn so ist es ja damals auch gesagt worden: Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.
Das Interview führte Wenke Börnsen für tagesschau.de