ARD-Wahlexperte Schönenborn "Umfragewerte werden überschätzt"
Seit zehn Jahren präsentiert Jörg Schönenborn die Wahlumfragen im Ersten. tagesschau.de sprach mit dem Wahlexperten der ARD über die Europawahl, überschätzte Umfragewerte und warum er sich am Wahlsonntag nicht mehr über die "Lindenstraße" ärgern muss.
tagesschau.de: Herr Schönenborn, woran liegt es, dass sich niemand für die Europawahl zu interessieren scheint?
Jörg Schönenborn: Die Parteien sind für die Menschen immer schwerer zu unterscheiden. Das wirkt sich auf alle Wahlen aus. Im Hinblick auf Europa kommt hinzu, dass selbst Insider nicht genau wissen, wozu man die Abgeordneten wählt und was sie letztlich überhaupt zu entscheiden haben. Es ist alles sehr kompliziert und wenig transparent. Das schreckt viele Wähler ab. Zudem sind die Spitzenkandidaten der Parteien wenig bekannt.
tagesschau.de: Sie präsentieren seit zehn Jahren die Wahlumfragen in der ARD. Sind die Prognosen und Hochrechnungen in dieser Zeit eigentlich exakter geworden?
Jörg Schönenborn ist Fernsehchefredakteur des WDR und ARD-Wahlexperte. Seit 1999 moderiert er bei Landtagswahlen, Bundestagswahlen und Europawahlen. Jeweils am ersten Donnerstag des Monats präsentiert Jörg Schönenborn in Zusammenarbeit mit den Meinungsforschern von Infratest dimap den ARD-Deutschland-Trend in den tagesthemen.
Schönenborn: Definitiv. Das hat natürlich nichts mit mir zu tun, sondern ist einfach eine Weiterentwicklung der mathematischen Möglichkeiten und wissenschaftlichen Methodik. Für uns ist die Maßzahl, wie gut wir waren, immer die Summe der Abweichung der einzelnen Parteien zwischen Prognose und Endergebnis. Als ich angefangen habe, war es gut, wenn man eine Gesamtabweichung von drei Prozentpunkten hatte, heute wäre das ein eher schlechterer Wert. Wir haben inzwischen schon Abweichungen von unter einem Prozentpunkt gehabt.
"Man will einfach wissen, wer gewonnen hat"
Heute gibt es eine Premiere: Während der Ausstrahlung der "Lindenstraße" im Ersten geht die ARD-Berichterstattung zur Europawahl weiter - und zwar im Internet auf tagesschau.de sowie auf EinsExtra, voraussichtlich von 18.50 Uhr bis 19.20 Uhr.
tagesschau.de: Wer interessiert sich eigentlich mehr für Ihre Zahlen, Wähler oder Politiker?
Schönenborn: Ich glaube, beide gleichermaßen. Es kommen ja zwei Dinge zusammen. Einmal ist da die sportliche Spannung. Man will einfach wissen, was rauskommt, wer gewonnen hat. Auf der anderen Seite geht es wirklich um etwas, vergleichbar etwa einem Finale bei einem Fußballspiel. Es ist ja nicht unwichtig, was da letztlich rauskommt.
tagesschau.de: Sie werden von den Meinungsforschern von Infratest dimap an Wahltagen ständig auf den neuesten Stand gebracht. Gibt’s da schon am Nachmittag viele neugierige Anrufer, die von Ihnen wissen wollen, wie es ausgeht?
Schönenborn: Das ist in der Tat so. Wir wissen ja auch gegen 13, 14 Uhr in der Regel, wohin der Hase läuft. Aber ich habe mir mittlerweile angewöhnt, das Handy auf Mailbox zu stellen. So komme ich nicht in Verlegenheit, auch guten Bekannten in dieser Hinsicht einen Korb geben zu müssen.
tagesschau.de: Wie groß ist die Zahlengläubigkeit bei Politikern und Journalisten?
Schönenborn: Umfragewerte werden von vielen Politikern und Journalisten überschätzt. Die Politiker, die am lautesten sagen, dass sie an Umfragen nicht interessiert seien, fragen in kleiner Runde oft am genauesten nach, was für Zahlen wir haben. Ich persönlich glaube aber, dass Zahlen überschätzt sind. Ob eine Partei in der Sonntagsfrage 42, 40 oder 38 Prozent hat, ist nicht das Entscheidende. Die Kunst ist es, sich von der Ziffer zu lösen und zu gucken, wie verschiedene Daten zusammenspielen und welches inhaltliche Bild sich daraus ergibt.
"Die Frage der Wahlbeteiligung wird immer wichtiger"
tagesschau.de: Werden von den Meinungsforschern heute andere Aspekte abgefragt als vor zehn Jahren?
Schönenborn: Vor etwa fünf Jahren ist ein Aspekt hinzugekommen, der früher in der Analyse keine große Rolle spielte, aber seitdem eine ganz entscheidendes Faktum ist: die Frage nach der Wahlbeteiligung. Die Entscheidung, wer die Wahl gewinnt, fällt heutzutage nicht mehr, weil Wähler von der einen Partei zur anderen wechseln. Die Entscheidung fällt immer, weil Wähler sich verweigern und bei einer Wahl zuhause bleiben.
tagesschau.de: Eine Eigenart der ARD-Wahlsendungen ist, dass sie oftmals genau dann, wenn es bei den Hochrechnungen spannend wird, von der "Lindenstraße" unterbrochen werden. Stört Sie das?
Schönenborn: Als Journalist kann ich das nicht gut finden, der Datenfluss geht ja ungebrochen weiter. Und ich stehe dann da mit einem Korb voller Erkenntnisse, und die will ich natürlich auch loswerden. Zum Glück geht das ja am kommenden Sonntag.
tagesschau.de: Keine "Lindenstraße"?
Schönenborn: Doch, aber wir senden zum ersten Mal einfach weiter. Im Internet auf tagesschau.de wird es einen Livestream geben.
"Konkurrenz sorgt für Qualität"
tagesschau.de: Wie groß ist der sportliche Aspekt Ihrer Arbeit, gerade im Hinblick auf die demoskopische Konkurrenz der anderen Fernsehsender?
Schönenborn: Es spielt in der Tat eine ganz große Rolle, wer am Ende der Genaueste war. Das ist ein wichtiger Reiz der Wahlabende. Das hat auf der einen Seite was Sportliches, auf der anderen Seite sorgt diese Konkurrenz für Qualität. In Amerika ist in den 80er Jahren von den großen TV-Netzwerken entschieden worden, dass sie alle nur noch ein einziges Institut beauftragen, und das hat nachweislich zu schlechter Arbeit geführt – etwa der Katastrophe aus dem Jahr 2000 mit mehrfach falschen Zahlen aus Florida. Wenn zwei Wettbewerber am Markt sind, die auf Augenhöhe kämpfen, so wie es in Deutschland der Fall ist, dann ist so ein Qualitätsverlust nicht möglich.
Das Interview führte Ulrich Bentele, tagesschau.de