Thüringen Warum in Thüringen so viele Abschiebungen von Flüchtlingen scheitern
Die Zahl der Abschiebungen in Thüringen steigt. Doch sieben von zehn Abschiebungen scheitern, obwohl Gesetze dieses Jahr verschärft wurden. Was sind die Gründe dafür? Und führen schärfere Gesetze überhaupt zu mehr Abschiebungen?
Vor zehn Jahren kam Tarik J. von Marokko über Italien nach Deutschland. Zuletzt landete er in Apolda. Doch in der Thüringer Stadt beging der Intensivtäter in wenigen Monaten Dutzende Straftaten: Beleidigungen, Bedrohungen, Drogendelikte bis hin zu Körperverletzungen. Lange Zeit saß er dafür in Haft. Doch kaum wieder entlassen, kamen die nächsten Straftaten hinzu. Sein Asylantrag war seit Jahren abgelehnt, doch eine Abschiebung scheiterte bisher.
CDU-Landrätin Christiane Schmidt-Rose und Apoldas Bürgermeister Olaf Müller (parteilos) wussten sich im Juli dieses Jahres nicht mehr anders zu helfen und richteten wegen des "nicht mehr kontrollierbaren Straftäters" einen öffentlichen Hilferuf an Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke). Mehrere Wochen dauerte es. Doch dann konnte der zuständige Innenminister Georg Maier (SPD) endlich verkünden, dass es gelungen war, J. nach Marokko abzuschieben.
Bei J. gelang mit einem erheblichen Aufwand die Abschiebung, welche sonst in den meisten Fällen in Thüringen scheitert. Wie viele Abschiebungen scheitern? Und was sind die Gründe dafür?
Mehr als zwei Drittel der Abschiebungen in Thüringen in diesem Jahr gescheitert
Bis Ende Oktober 2024 wurden in Thüringen laut dem zuständigen Landesverwaltungsamt 366 ausreisepflichtige Flüchtlinge abgeschoben. Das waren zumindest ein Drittel mehr als zur gleichen Zeit des Vorjahres. Im gesamten Vorjahr gab es 308 Abschiebungen. Doch weit höher liegt die Zahl der im Vorjahr eigentlich geplanten Abschiebungen, die nicht durchgeführt wurden: Über 800 Mal brach das Land bis Ende Oktober 2024 geplante Abschiebungen ab. In Thüringen waren es mit knapp 69 Prozent sogar noch etwas mehr als im Bundesschnitt.
Die häufigsten Gründe, warum Abschiebungen scheitern
Die Ursachen dafür sind vielfältig, aber zwei Gründe stechen laut dem Landesverwaltungsamt in diesem Jahr hervor. In mehr als 350 Fällen - und damit am häufigsten - sei eine Abschiebung in Thüringen im Zeitraum von Januar bis Oktober 2024 an den Fluggesellschaften gescheitert. Diese würden regelmäßig nur eine bestimmte Anzahl an abschiebepflichtigen Flüchtlingen transportieren. "Ist die Anzahl von rückzuführenden Menschen auf einem Flug bereits erreicht, lehnt die Airline die Mitnahme weiterer ausreisepflichtiger Personen ab", teilte die Behörde MDR THÜRINGEN mit. Die Zahl der Ablehnungen durch Fluggesellschaften sei im Vergleich zum Vorjahreszeitraum noch einmal deutlich angestiegen.
Ein Pilot entscheidet auf einem Linienflug, von welcher Person - ob Flüchtling oder nicht - eine Gefahr für andere Passagiere ausgehen könnte und kann deren Mitnahme verweigern. Und einen anderen Weg für die Abschiebungen gibt es in Thüringen dabei nicht, per Bus oder Bahn werde nicht abgeschoben.
Warum Abschiebungen in Thüringen scheitern: Die häufigsten Gründe (Januar bis Oktober 2024)
- 397 Fälle: "Sonstige Gründe": Fluggesellschaft lehnt Beförderung ab, Asylfolgeantrag, Gerichtsverfahren
- 272 Fälle: Unbekannter Aufenthalt / Untergetaucht
- 37 Fälle: EU-Staat nimmt am Abschiebetag keine Flüchtlinge wieder auf
- 36 Fälle: "Freiwillige" Ausreisen vor Abschiebung
- 19 Kirchenasyl
Quelle: Landesverwaltungsamt
Der andere wesentliche Grund ist, dass der Flüchtling untergetaucht oder nicht mehr auffindbar gewesen sei, als die Polizei diesen abschieben wollte. Das war in Thüringen bis Ende Oktober 272 Mal der Fall gewesen. "Die jeweilige Ausländerbehörde bereitet die Abschiebung so gut wie möglich vor. Doch nach dem Eintreffen an der Meldeadresse ist die Person nicht anzutreffen", erklärte Jürgen Hoffmann, Thüringer Vorsitzender der Deutschen Polizei-Gewerkschaft (DPolG). Die Polizei-Gewerkschaft als auch Bundespolizei loben zudem die Zusammenarbeit mit den Thüringer Behörden. Diese ist aus Sicht der Bundespolizei "gut, vertrauensvoll und professionell".
Doch es gibt noch mehr Gründe: In 37 Fällen habe der eigentlich zuständige EU-Mitgliedsstaat, in dem der Flüchtling die Europäische Union erreicht hat, den Flüchtling nicht wieder aufgenommen. Laut dem Dublin-Abkommen muss in der EU der Asylantrag in dem Land gestellt werden, in dem der Flüchtling angekommen ist. Auch wenn die oder derjenige dann nach Deutschland weitergereist ist. Doch einige Staaten wie Italien oder Griechenland weigern sich oft, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Allerdings ist die Zahl der gescheiterten Abschiebungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum hier sehr stark zurückgegangen, als es noch 214 derartige Fälle gab.
Die Zusammenarbeit kann als gut, vertrauensvoll und professionell bewertet werden. Sprecher der Bundespolizei | über die Zusammenarbeit mit dem Land Thüringen bei Abschiebungen
"Freiwillig" reisten schließlich 36 abschiebepflichtige Flüchtlinge ab und kamen damit aber lediglich einer zwangsweisen Abschiebung zuvor. Kirchenasyl war laut Landesverwaltungsamt in 19 Fällen der Grund, dass eine Abschiebung scheiterte. Dieses wird nur gewährt, wenn der Betroffene unter das Dublin-Abkommen fällt. In einigen wenigen Fällen gab es schließlich keine Abschiebung, weil gegen die Abzuschiebenden Gerichtsverfahren laufen oder weil diese einen Asylfolge-Antrag stellten, da es nach der Ablehnung des vorherigen Antrages etwa neue Erkenntnisse gegeben hat.
Die Bundespolizeidirektion in Pirna, die neben Thüringen auch für Sachsen- und Sachsen-Anhalt zuständig ist, nennt schließlich als weitere Gründe für ein Scheitern fehlende Ausweispapiere oder weil kurzfristig juristisch gegen eine Abschiebung vorgegangen wird.
Flüchtlinge werden in Thüringen per Flugzeug von Flughäfen außerhalb des Freistaates abgeschoben.
In welche Länder Thüringen am häufigsten abgeschoben hat
Am häufigsten schoben bis Ende Oktober 2024 das Land und die kommunalen Ausländerbehörden nach Georgien ab. Dorthin gab es 74 Abschiebungen. Danach folgten Nordmazedonien, Serbien, Albanien und die Türkei.
- Georgien: 74 Abschiebungen
- Nordmazedonien: 63 Abschiebungen
- Serbien: 38 Abschiebungen
- Albanien: 21 Abschiebungen
- Türkei: 13 Abschiebungen
Im Vergleich zum Vorjahr stiegen bis Ende Oktober vor allem Abschiebungen nach Georgien um das Doppelte. Nach Syrien oder Afghanistan schiebt Deutschland aktuell nicht ab.
Die Kosten für die Abschiebungen halten sich dabei in Thüringen in Grenzen. Bis Ende August dieses Jahres beziffert das Landesverwaltungsamt diese auf rund 300.000 Euro. Dass die Kosten die Ausreisepflichtigen, wie eigentlich vorgesehen, selbst zahlen, geschieht fast nie. Eine "freiwillige" Ausreise kostet weniger Steuergeld und erfolgt schneller als Zwangsabschiebungen - selbst wenn es dafür ein umstrittenes "Handgeld" gibt. Denn bei Abschiebungen entstehen jedes Mal neben den Flugtickets auch noch Kosten für jeweils mehrere Bundes- und Landespolizisten.
Wie läuft eine Abschiebung in Thüringen ab? (Zum Aufklappen):
- Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnt ein Asylgesuch ab.
- Die Ausländerbehörde des jeweiligen Thüringer Kreises oder der kreisfreien Stadt entscheidet danach über Duldung oder Abschiebung. Ausreisepflichtige Personen müssen abgeschoben werden.
- Danach muss die Behörde 7 bis 30 Tage warten, ob der Flüchtling nicht selbst ausreist.
- Die Ausländerbehörde muss danach feststellen, dass der Flüchtling sich weiter in Deutschland befindet und dass die Ausreisepflicht vollziehbar ist.
- Die Ausländerbehörde bestätigt die Abschiebung und übergibt den Fall der Zentralen Abschiebestelle (ZAS) im Thüringer Landesverwaltungsamt.
- Die ZAS übernimmt den Fall und koordiniert die Abschiebung.
- Die ZAS legt dann den Termin fest.
- Aufgrund der Gesetzesänderung im vergangenen Frühjahr informiert die ZAS den betroffenen Flüchtling nicht mehr ein bis drei Tage vor der Abschiebung über den Termin.
- Die Ausländerbehörde prüft noch einmal Abschiebehindernisse.
- Die Thüringer Polizei holt Flüchtling für Abschiebung ab und übergibt ihn am Flugzeug der Bundespolizei.
Quelle: Landesverwaltungsamt
Thüringen begrüßt Gesetzesverschärfungen der Bundesregierung
Im Februar verschärfte die Bundesregierung mit dem sogenannten "Rückführungsverbesserungsgesetz" die Regeln für eine Abschiebung. Unter anderem wurde der Ausreisegewahrsam von zehn auf 28 Tage verlängert oder können Polizisten bei Abschiebungen in Gemeinschaftsunterkünften auch andere Räume als die des Betroffenen durchsuchen. Und Abschiebungen müssen nicht mehr angekündigt werden, sofern es keine Familien mit Kindern von bis zu zwölf Jahren betrifft.
Diese Maßnahmen sieht das Landesverwaltungsamt "durchaus positiv", um mehr Menschen abschieben zu können. Vor allem die Möglichkeit des längeren Ausreisegewahrsams habe "die Rückführungsmöglichkeiten verbessert". Allerdings fordert die Landesbehörde weitere Migrationsabkommen, weil viele Abschiebungen weiter an der mangelnden Aufnahmebereitschaft des Heimatlandes scheiterten. Die Polizeigewerkschaft DPolG geht in ihrer Forderung noch weiter und fordert sogar eine Gesetzesänderung, so dass nach einer Entscheidung der abschiebepflichtige Flüchtling in Abschiebehaft kommen sollte.
Im Oktober gab es nach dem Attentat in Solingen weitere Gesetzesverschärfungen im sogenannten "Sicherheitspaket". Unter anderem sollen Asylbewerber, bei dem laut Dublin-Abkommen ein anderes Land zuständig ist, keine staatlichen Leistungen mehr bekommen, sofern keine Kinder betroffen sind. Dazu können Länder nun Messerverbote erlassen. Weitere Verschärfungen wurden im Bundesrat überraschend abgelehnt.
Eine Spezialeinheit der Polizei holt mehrere Personen aus einem Kirchengebäude, die sich zunächst einer geplanten Abschiebung widersetzt hatten. (Archivfoto)
Kritik an schärferen Gesetzen und Abschiebepraxis in Thüringen
Doch es gibt auch Kritik an den Gesetzesverschärfungen und der aktuellen Abschiebe-Praxis. Mit Sorge sieht Juliane Kemnitz vom Thüringer Flüchtlingsrat eine zunehmende "überfallartige Abschiebepraxis". Die Flüchtlingsberaterin berichtet von einem Fall in Thüringen, bei dem ein Mann, der einer Arbeit nachging und seit sechs Jahren in Deutschland lebte, zu einer Ausländerbehörde geladen worden sei. Doch statt einer Beratung sei er dort festgenommen und zum Flughafen transportiert worden. "Das ist eine Praxis, die auf jeden Fall aus unserer Perspektive heraus neu ist", sagte Kemnitz.
Flüchtlinge, deren Asylgesuch abgelehnt worden ist, dürfen aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel wenn sie eine Arbeit haben, oft nicht abgeschoben werden und sind "geduldet". Sie leben in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften. Durch die dort schon lange stattfindenden regelmäßigen Besuche von Polizei und Ausländerbehörde, und nun durch die nächtlichen oder unangekündigten Abschiebungen oder Durchsuchungen von Nachbarräumen würde eine größere Unsicherheit verbreitet, so der Flüchtlingsrat. Das betreffe dann auch geduldete Flüchtlinge, die seit langem arbeiten gehen.
Eine Verschärfung der Abschiebepraxis heißt nicht unbedingt, dass mehr Leute abgeschoben werden können. Juliane Kemnitz | Flüchtlingsrat Thüringen
Auch das teilweise verabschiedete "Sicherheitspaket" sieht der Flüchtlingsrat kritisch. Eine Verschärfung der Abschiebepraxis führe für Kemnitz nicht unbedingt dazu, dass mehr Menschen abgeschoben werde, schon weil viele Herkunftsländer etwa beim Ausstellen von Dokumenten nicht kooperierten. Ein häufiges Hindernis für eine Abschiebung, das auch die Bundespolizei bestätigt.
Dazu gebe es für Kemnitz viele gesetzlich verankerte Gründe, eine Abschiebung auszusetzen und wo das "Sicherheitspaket" gar nicht greifen kann: wenn etwa der Asylbewerber Teil einer Familie mit einem Aufenthaltsstatus ist oder wegen Gesundheitsproblemen in Behandlung ist. Die "populistische Debatte" über Gesetzesverschärfungen könne für sie sogar dazu führen, dass verunsicherte Betroffene "im Zweifelsfall eher den Weg in die Illegalität" gehen. Statt Abschiebungen sollte Flüchtlingen stattdessen eine Bleibeperspektive gegeben werden, etwa durch Arbeit oder dem Erlernen der Sprache.
Auch kriminelle Flüchtlinge sollten nicht mit einer Abschiebung, sondern strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden: "Abschiebung ist einfach Migrationsrecht und kein Strafrecht", sagt Kemnitz. Freiwillige Ausreisen befürwortet sie dagegen, wenn die Situation im Herkunftsland sicher ist und die Ausreise wirklich freiwillig sei.
Bei dem Intensivstraftäter Tarik J. lag einer der Gründe, warum er lange nicht abgeschoben werden konnte, darin, dass Marokko nicht mit Deutschland kooperieren wollte. Die dortige Regierung erkannte lange Zeit nicht an, dass es sich bei ihm um einen ihrer Staatsbürger handelt. Mehrere Identitäten und fehlende Ausweise erschwerten die Identifizierung. Doch auch wegen des Migrationsabkommens mit Deutschland Anfang des Jahres konnte er schließlich doch abgeschoben werden. Einem Abkommen, von dem das Land Thüringen weitere fordert.
MDR (rom)